Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute steht eine Romanfigur von E.T.A. Hoffmann im Mittelpunkt, die durch die Musik von Robert Schumann unsterblich wurde: Kreisleriana op. 16 ist unser heutiges Musikstück.
"Äußerst bewegt", "sehr innig und nicht zu rasch", "sehr aufgeregt", "sehr langsam" - so lauten einige der Satzüberschriften, die Schumann den acht Klavierstücken seiner Kreisleriana gibt. Dualität, Verschlingung und Gegenüberstellung von Identitäten, die Traumwelt, das Unterbewusstsein, unbändiger Humor, das Übernatürliche, Verschleierung, Wahnsinn, der Außenseiter: Das ist die innere Welt Robert Schumanns - eine Welt, die er mit dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann teilte. Dessen Roman "Lebensansichten des Katers Murr" war ihm eine reiche Quelle der Inspiration, insbesondere zu den Kreisleriana. Murr ist ein Kater mit literarischen Ambitionen. Bei der Arbeit an seiner Autobiographie benutzt er Seiten aus einer bereits erschienenen Biographie des fiktiven Kapellmeisters Johannes Kreisler, so dass der Leser ohne Vorwarnung zwischen Kater und Kapellmeister hin- und hergerissen wird. Das Ergebnis ist verwirrend und urkomisch, destabilisierend und unverständlich. Kreisler ist das Alter Ego Hoffmanns - und wohl auch Schumanns. Seiner Verarbeitung der Figur in der Kreisleriana fehlt weitgehend die romantische Ironie und der Humor Hoffmanns, zu zerrissen wirkt die Seele, die da porträtiert wird in nahezu brutal anmutenden Charakterwechseln.
Als Spiegel Schumanns privater Situation im Sommer 1838 wird das Werk gerne gesehen: Zu dem Zeitpunkt beschränkt sich der Kontakt des 28-jährigen Schumann zur geliebten Clara, die nur einige Straßen weiter wohnt, auf sporadische Briefe. Wieck, Claras Vater, hat seine Tochter schon vor zwei Jahren von Schumann abgeschirmt, was diesen in tiefste Verzweiflung stürzt. Sein Heiratsantrag 1837 wurde ausweichend beantwortet. Trotzdem hält er an seiner Liebe fest. Es scheint, als würden Arbeitseifer und Ausdruckskraft seiner Musik vom privaten Dilemma genährt: Sein künstlerisches Ideal, Musik müsse poetisch sein und müsse eine Symbiose aus Phantasie, Eigenleben und gutem Handwerk darstellen, sieht er auf dem Höhepunkt seiner ersten Klavierphase 1838 verwirklicht.
Es fliegen ihm die Melodien seit einiger Zeit nur so zu, wie Schumann an Clara schreibt, und er gewinnt sein musikalisches Material nicht mehr durch Improvisieren am Klavier, sondern es entsteht im Kopf. Die scharfen Gegensätze der Stücke zeigen sich jedoch nur vordergründig als Kontrast: Melodische Verwandtschaften lassen sich finden, beziehungsreich sind die verwendeten parallelen Tonarten g-Moll und B-Dur. Formal bedient er sich oft einer lockeren Rondoform, oder eines dreiteiligen Modells, aber auch Entwicklung einer Form lässt Schumann zu in einigen Stücken zu.
Drei Pianisten empfehle ich Ihnen heute gerne mit diesem Werk - zunächst Daniil Trifonov, aufgezeichnet 2015 in der New Yorker Carnegie Hall:
Denis Matsuev in einem Mitschnitt aus dem Amsterdamer Concertgebouw, ebenfalls aus dem Jahr 2015:
Und zum Schluss: Schumanns Kreisleriana op. 16 mit dem jungen Pianisten Alexander Krichel aus der Essener Philharmonie vom 19. Dezember 2020:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler