Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute stelle ich Ihnen einen Liederzyklus vor, den ich vor einigen Monaten selbst aufgeführt habe: Die Kerner-Lieder op. 35 von Robert Schumann.
Die zwölf Kerner-Lieder, die im November und Dezember 1840 entstanden und schließlich zum Opus 35 gruppiert wurden, bilden beim Dichter kein geschlossenes Ganzes, sondern wurden erst durch den Komponisten zusammengestellt. Nicht von einem sich rundenden „Liederkreis“ wie bei dem Eichendorff-Zyklus op. 39 spricht Schumann, sondern abschwächend von einer „Liederreihe“, die gleichwohl inhaltliche und musikalische Querbezüge zeigt und als „Lieder-Novelle“ bezeichnet worden ist. Die Neigung des schwäbischen Dichters Justinus Kerner zum Dunklen und Nicht-Ausgesprochenen kam Schumann entgegen, konnte er doch in Tönen und durch den Zusammenhang zum Ausdruck bringen, was in den einzelnen Gedichten nicht gesagt wird. Kerners Verse erschließen sich nicht immer unmittelbar, zumal sie oft von einer dunklen Wehmut durchzogen sind.
Entsagung, Verzweiflung, Flucht vor den Menschen in die namenlose Natur ziehen sich als roter Faden durch die Liederreihe; Weltschmerz ist die Grundstimmung der ausgewählten Dichtungen. Um den Gehalt der Liederreihe nicht völlig monochrom werden zu lassen, sorgte Schumann freilich für Gegengewichte: sein fröhlicher Marsch-Tonfall hat das dritte Lied ("Wanderlied") zu einem der populärsten, vorwiegend aus dem Kontext gelösten Stücke des Zyklus werden lassen. Gegen Ende des Zyklus wird die Stimmung immer nachdenklicher. Ohne Vorbild ist es, dass Schumann seine Liederreihe mit einem „Doppellied“ beschließt: "Wer machte dich so krank?" und "Alte Laute", zwei ursprünglich unabhängige Gedichte, die bis auf die rhythmischen Details der Textakzentuierung in der Singstimme identisch verlaufen. Die Anweisung des letzten Liedes lautet „noch langsamer und leiser“ - der Dichter zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Doch während "Wer machte dich so krank?" mit einem kleinen Klaviernachspiel endet, verklingt "Alte Laute" auf dem letzten „nur“ des Sängers. So bleibt am Schluss dieses Liedes und des gesamten Zyklus‘ ein rätselhaftes Gefühl des Unabgeschlossenseins.
So unruhig drängend die Liedfolge mit der „kräftig, leidenschaftlich“ zu gestaltenden "Lust der Sturmnacht" begonnen hat, so still endet sie mit einer Todesahnung des Vereinsamten. Auf äußere Wirkung bei einem Liederabend ist dieser Schluss nicht berechnet; sucht man eine dramaturgische Parallele, so kommt einem vielleicht Schuberts in den todeserstarrten Leiermann mündende Winterreise in den Sinn.
1987 führte Dietrich Fischer-Dieskau Schumanns Kerner-Lieder gemeinsam mit Hartmut Höll im Hans-Rosbaud-Studio in Baden-Baden auf, den Mitschnitt können Sie im folgenden Link sehen:
www.youtube.com/watch