Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
kaum eine andere Sinfonie war in ihrer Entstehung so schicksalhaft in die tragischen Ereignisse der Weltgeschichte verflochten wie die siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch - um seine "Leningrader" Sinfonie soll es in der heutigen Ausgabe gehen. Ein kleines musikalisches Detail vorab: Ausgerechnet der folgende Titel floss in dieses Werk mit ein:
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Doch der Reihe nach - Sommer 1941: Am 22. Juni greift die Wehrmacht die vollkommen unvorbereitete Sowjetunion an. Russland befindet sich im Krieg mit Nazi-Deutschland, mit dem es sich gerade noch trügerisch im Nicht-Angriffs-Pakt wähnte. Der führende Sowjetkomponist Dmitri Schostakowitsch weilt in seiner Heimatstadt Leningrad, patriotisch gestimmt, und schreibt eine neue Sinfonie. Mehrfach bemüht er sich, zur Roten Armee eingezogen zu werden, doch er wird abgelehnt - das Sowjetreich möchte seine Künstler nicht den Kanonen opfern. Immerhin darf Schostakowitsch als Mitglied der Brandwache einen Beitrag zur Verteidigung Leningrads leisten.
Stunden, oft ganze Nächte verbringt er im Feuerwehrschutzanzug auf dem Dach des Konservatoriums, dazwischen konzentriert er sich mit aller verbleibenden Kraft auf seine Sinfonie. Selbst als im September die Wehrmacht beginnt, Leningrad systematisch von seinen Versorgungswegen abzuschneiden und auszuhungern, weigert sich Schostakowitsch, seine geschundene Stadt zu verlassen. Er will den Faden zu seinem Werk nicht verlieren, den leidenden Menschen mit seiner Sinfonie einen moralischen Halt geben. Erst Anfang Oktober gibt er seinen Widerstand auf und lässt sich evakuieren. Die ersten drei Sätze der Sinfonie immerhin sind geschafft. Den letzten schreibt er in Kuibyschew an der Wolga.
Für das Finale der Sinfonie benötigte Schostakowitsch keine zwei Wochen. Am 27. Dezember war das gesamte Werk abgeschlossen. Einige Wochen darauf begannen die Proben, und am 5. März 1942 fand in Kuibyschew die Uraufführung statt. Das Orchester des Bolschoi-Theaters erspielte der neuen Sinfonie unter der Leitung von Samuel Samossud einen gewaltigen Erfolg. Ende März wurde das Werk in derselben Besetzung auch in Moskau gegeben. Am 22. Juni brachten Sir Henry Wood und das London Symphony Orchestra die Komposition in einem Londoner BBC-Studio erstmals außerhalb Russlands zu Gehör. Einen Monat später dirigierte Arturo Toscanini die amerikanische Erstaufführung.
Die ergreifendste Premiere der Sinfonie aber muss diejenige gewesen sein, die am 9. August 1942 im belagerten Leningrad stattfand. Es gab nur noch wenige Berufsmusiker in der Stadt. Das Orchester war nach Nowosibirsk evakuiert worden, der Dirigent musste pensionierte Musiker, Soldaten und andere Personen verpflichten, die ein Instrument beherrschten. Die Reaktion des Publikums hat der Schauspieldichter Alexander Kron in die folgenden Worte gefasst: „Menschen, die nicht mehr wussten, wie sie Tränen des Kummers und des Elends weinen sollten, weinten aus reiner Freude.“
Dass die so entstandene Sinfonie von vornherein mystifiziert und ideologisch überhöht wurde, konnte nicht ausbleiben. Die Deutung des Werkes war sogleich eine abgemachte Sache: Die "Leningrader" galt als ein patriotisches Manifest, eine Beschwörung des Widerstandsgeistes, ein Fanal gegen den Faschismus. Und tatsächlich konnte jeder gleich im ersten Satz die deutschen Truppen einmarschieren hören: In der so genannten "Invasions-Episode" wird ein zunächst simpel und harmlos erscheinendes Thema (das auch noch das eingangs erwähnte Lied "Da geh’ ich in's Maxim" aus Hitlers Lieblingsoperette "Die lustige Witwe" von Franz Lehár zitiert) über einem bedrohlichen Rhythmus der Kleinen Trommel nach und nach klanglich so massiert und ins Aggressive gesteigert, dass man sich am Ende in einem Inferno wähnt.
Würde man die "Leningrader" ohne jede Kenntnis ihrer Entstehungsumstände und politischen Vereinnahmung hören, nähme man vielleicht vor allem wahr, dass in diesem Werk sehr viel sehr grelle Musik neben sehr viel sehr leiser und extrem nach innen gekehrter Musik steht. Neben all dem brutalen Lärmen und Militärgerassel gibt es in allen Sätzen immer wieder Stellen von berührender kammermusikalischer Intimität, traumverlorene Soli, die lange versonnene Gedankenfäden spinnen und ganz mit sich beschäftigt sind: Man kann sie kaum anders hören als die Stimmen von Individuen - zart, aber fragil und ständig gefährdet durch die Einbrüche von Gewalt und Rohheit.
Doch das Individuum war dem Sowjetstaat suspekt, und tatsächlich sollte Schostakowitsch später, als der Krieg längst vorbei war und sich der Rummel um das patriotische Meisterwerk gelegt hatte, dafür gerügt werden, eine "Welt subjektiver Reflexionen" zum Klingen gebracht zu haben. Man lobte zwar den ersten Satz mit seiner eindrücklichen Karikatur des Feindes, vermisste aber ansonsten die Verherrlichung der "Macht und Kraft der Roten Armee" und den Entwurf eines optimistischen Bildes der Sowjet-Gesellschaft. Aber das war natürlich niemals Schostakowitschs Absicht gewesen. Überhaupt war das Werk keine reine Kundgebung gegen Hitler, Krieg und Faschismus. Schon während der Zeit der Entstehung wussten viele Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Komponisten, dass Schostakowitsch seine Sinfonie so nicht gedacht hatte.
Wovon die Musik spricht, ist allgemeiner musikalischer Ausdruck von Gewalt und Bedrohung, eine überzeitliche sinfonische Anklage gegen Unrecht, Schreckensherrschaft und die rücksichtslose Negierung des Individuums. All das hatten Schostakowitsch und unzählige Bürger der Sowjetunion lange vor Kriegsbeginn qualvoll am eigenen Leibe erfahren durch den Terror Stalins der 1930er Jahre. Schostakowitsch schreibt in seinen Memoiren: "Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte (…) Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass man die Siebte die "Leningrader" Sinfonie nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt."
Die Erfahrung von Diktatur, Unfreiheit, Angst und Trauer ist als Grundklang aus Schostakowitschs Schaffen nicht wegzudenken. Dennoch war er der tiefen Überzeugung, dass "höchste Humanität und Liebe zu den Menschen (…) die einzig würdige Schaffensbasis für alle Zweige der Kunst" sei. "Das wichtigste Objekt der Kunst aber bleibt (…) der Mensch, seine Geisteswelt, seine Ideen, Träume, Wünsche", resümierte Schostakowitsch 1975, in seinem letzten Lebensjahr. Beides, der Grundklang von Gewalt und die tiefe Sehnsucht nach Humanität, haben in die siebte Sinfonie gleichermaßen Eingang gefunden.
Drei Aufführungen der "Leningrader" Sinfonie stelle ich Ihnen heute zur Auswahl - zunächst mit Mariss Jansons, einem der wichtigsten Schostakowitsch-Dirigenten. Das Konzert mit den Berliner Philharmonikern wurde am 13. Juni 1992 in der Berliner Philharmonie aufgezeichnet:
Klaus Mäkelä dirigierte das Werk am 1. November 2019 in der Frankfurter Alten Oper, es spielte das hr-Sinfonieorchester:
30 Jahre nach seinem ersten Konzert mit dem Kölner Gürzenich-Orchester kehrte der frühere Generalmusikdirektor James Conlon zum Orchester zurück und wählte ebenfalls Schostakowitschs siebte Sinfonie. Der Mitschnitt in der Kölner Philharmonie entstand am 9. April 2019: