Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
1828 sind sechs wunderbare "musikalische Augenblicke" von Franz Schubert erschienen: Die Moments musicaux D 780 aus seinem letztem Lebensjahr dauern zwischen gut anderthalb und acht Minuten und sind technisch nicht besonders anspruchsvoll. Dennoch stellen eine ganze besondere Wendung in der Geschichte der Klavierliteratur dar.
Als Schubert den Zyklus der sechs Moments musicaux in Druck gab, konnte er sicher nicht damit rechnen, dass sie zusammen mit den Impromptus sogar sein gesamtes Klavierwerk an Popularität in den Schatten stellen würden. Schuberts großer Wunsch war es, endlich einmal einen Verkaufserfolg zu landen. So hielt er sich in den technischen Anforderungen bewusst zurück. Doch gerade diese Einfachheit stellt selbst erfahrene Tastenlöwen vor schwere Aufgaben. Das Schwierigste an diesem Zyklus ist seine Natürlichkeit. Es ist ziemlich schwer, die Moments musicaux einfach und ungekünstelt zu spielen - ähnlich wie es schwerfällt, einfach zu reden...
Fast fröhlich und mit einem Jodlermotiv, beginnt das erste Stück. Kuckucksrufe, ein Echo - die Momentaufnahme einer Naturidylle. Das zweite Stück im wiegenden As-Dur ist reine Liebespoesie. Doch keine Liebe ohne Tragik: der mittlere Teil ist im finsteren fis-Moll gehalten, eine Tonart aus dem entgegengesetzten Ende der Tonarten-Welt. As-Dur und fis-Moll - beide Tonarten haben wegen verschiedener b- und Kreuzzeichen keinen einzigen gemeinsamen Ton. Dieser Wechsel zwischen weit voneinander entfernten Tonarten ist mit einer Magie des Lichtwechsels verbunden, die in Schuberts Werken oft zu hören ist und die für die ganze Romantik bedeutsam bleiben sollte. Das dritte Stück erinnert an die vielen, meist kurzen Tänze, die Schubert vor allem für das Klavier geschrieben hat. Im Gegensatz zur düsteren Stimmung anderer Stücke des Zyklus findet sich hier eher eine Leichtigkeit.
Im vierten Stück werden klar Anklänge an Bach deutlich, mit dessen Werk sich Schubert vor allem in der Entstehungszeit stark beschäftigt hat. Das ständig in sich kreisende Moderato in cis-Moll ist wie ein Gruß an Bach von der Schwelle zur Romantik. Eine latente Zweistimmigkeit, ganz ähnlich der im c-Moll-Präludium aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, ist deutlich erkennbar. Das fünfte Stück zeigt wiederum einen marschartigen Charakter voller Dramatik. Monotonie und Verlorensein strahlt das sechste und letzte Stück des Zyklus aus. Pendelmotive, das immer wieder in sich zusammenbrechende As-Dur, oft direkt zugunsten der Parallele f-Moll, strahlt eine tiefe Hoffnungs- und Ziellosigkeit aus.
Die Bandbreite der Stimmungen und Klangfarben in diesen sechs Miniaturen ist enorm. "Er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebenszustände", schrieb Robert Schumann über Schuberts Klaviermusik. Doch außer ihren mannigfaltigen Stimmungen haben die Moments musicaux noch eine andere Bedeutung in der Musikliteratur. Schubert schuf damit als erster die Gattung der Klavierminiatur, die sich später unter tausend verschiedenen Namen als "Lied ohne Worte", "Intermezzo" und ähnlichen Bezeichnungen in Hülle und Fülle entfaltete. Die Moments musicaux stehen zwar stilistisch mit einem Fuß noch in der Wiener Klassik; es sind Tänze, Etüden, Variationen. Doch haben die Stücke bereits einen neuen Inhalt und eine neue Form der knappsten Art, Gefühle auszudrücken. Eben aus diesen kleinen Klavierstücken Schuberts erwuchsen die Wege, die Schumann, Mendelssohn, Brahms, Rachmaninow und viele andere Komponisten gingen: die Wege der romantischen Klaviermusik.
Auch heute möchte ich Ihnen wieder drei Pianisten empfehlen, zunächst Paul Lewis, hier zu sehen im Château de Florans im Rahmen des Festivals La Roque
d’Anthéron im Jahr 2002:
Dreizehn Jahre später spielte Grigory Sokolov ebenfalls beim Festival La Roque d’Anthéron:
Und zum Schluss ein Pianist, der viel dazu beigetragen hat, Schuberts beinahe vergessene Klaviermusik wiederzuentdecken: Alfred Brendel. Für Radio Bremen hat er 1976/77 eine Reihe von Gesprächskonzerten mit Schuberts späten Klavierwerken aufgenommen; die Moments musicaux sind im folgenden Link zu sehen:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler