Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
das heutige Musikstück steht eng im Zusammenhang mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs: Maurice Ravels Klaviertrio a-Moll, entstanden im Sommer 1914 in Saint-Jean-de-Luz im Baskenland.
"Seit vorgestern diese Sturmglocke, diese weinenden Frauen und vor allem der grauenhafte Enthusiasmus der jungen Leute… Sie glauben, ich arbeite nicht mehr? Ich habe nie so viel mit einer verrückteren und heroischeren Wut gearbeitet”, schrieb Maurice Ravel in einem Brief 1914, unmittelbar nach Beginn des ersten Weltkriegs. “Ja, ich arbeite, und mit der Sicherheit und Hellsicht eines Verrückten. Aber währenddessen arbeitet der Trübsinn auch, und plötzlich breche ich über meinen ganzen B-Vorzeichen in Tränen aus!”
Die Spuren der Katastrophe sucht man allerdings vergeblich in dieser Musik. Sie wirkt vielmehr "heiter und gelöst, von einem Raffinement, das an ein rätselhaftes Sonett von Stéphane Mallarmé gemahnt”, wie es Theo Hirsbrunner in seiner Ravel-Biographie formuliert. Vor allem in seinen Rhythmen beschreitet Ravel Neuland: Im ersten Satz löst er den 8/8-Takt in asymmetrischen Achtelgruppen auf, bündelt die Noten mal zu Dreier-, mal zu Zweiergruppen: mehrdeutig wirken diese Rhythmen, luftig und schwerelos. Im Finale kombiniert Ravel 5/4 und 7/4-Takt (vielleicht eine Reminiszenz an die irregulären Rhythmen seiner baskischen Heimat), im zweiten Satz schichtet er ungerade Taktarten (in den Streichern) und gerade Taktarten (im Klavier) übereinander. "Pantoum" ist der Titel dieses Satzes, er spielt auf eine Form der Dichtung an, die in Malaysia und Indonesien verbreitet war und deren exotischer Reiz viele zeitgenössische Dichter faszinierte. Neben den aparten Harmonien und Klangexperimenten sind es diese unbestimmten Rhythmen, die dem Klaviertrio eine faszinierende Unbestimmtheit verleihen. Den soliden Gegenpol zu dieser hochgradig zerbrechlichen Klangwelt bildet der langsame Satz, eine Passacaglia, die sich an den strengen Formen der Barockzeit orientiert. Und im Finale ballt Ravel die Klänge der drei Instrumente zu solch wuchtigen Kaskaden auf, dass er beinahe orchestrale Wirkungen erreicht.
"Ich wollte unbedingt das Trio vollenden, das ich wie ein "opus posthumum" behandelt habe. Das soll nicht heißen, dass ich besonders viel Genie darin untergebracht hätte, sondern nur, dass mein Manuskript und die dazugehörigen Anmerkungen ordentlich genug sind, dass jeder andere die Fahnenabzüge korrigieren kann", schrieb Ravel am 8. September 1914 in einem Brief. Für ihn stand fest: er würde so bald wie möglich für Frankreich in den Krieg ziehen. Wegen seiner zarten körperlichen Konstitution hatte man ihn für militäruntauglich befunden, er legte indessen Widerspruch ein und setzte durch, dass man ihn als Lastwagenfahrer einsetzte. Die anfängliche Begeisterung sollte schon bald in Ernüchterung umschlagen.
Die Uraufführung des Trios erfolgte im Januar 1915 in der Salle Gaveau in Paris. Es ist ein Meisterwerk und weist als eines der ersten Werke Ravels ausgesprochen klassizistische Züge auf. Das Klaviertrio a-Moll blieb Ravels einziges Werk dieser Gattung.
Zwei Aufführungen empfehle ich Ihnen heute: Das Merz Trio war 2019 Resident Ensemble im New England Conservatory und spielte Ravels Klaviertrio im April 2019 in der Jordan Hall:
Im Rahmen einer BBC-Produktion spielte das legendäre Beaux Arts Trio Ravels Meisterwerk 1987 in der Signet Library in Edinburgh:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler