Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute empfehle ich Ihnen eine Oper, aus der ich Ihnen schon bereits im August 2020 einen Auszug vorgestellt hatte. Da die ersten beiden Akte am Weihnachtsabend spielen, soll das vollständige Werk heute quasi als Abschluss der Weihnachtszeit im Mittelpunkt stehen: "La Bohème" von Giacomo Puccini.
Ohne Tränen geht es hier selten: Bei der tragischen Liebesgeschichte zwischen dem mittellosen Dichter Rodolfo und der engelsgleichen Mimì bleibt kaum ein Auge trocken. Puccinis "La Bohème“ basiert auf dem Roman „Scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger, in dem Puccini den idealen Stoff für eine Oper sah. Ob er tatsächlich selbst auf das Buch gestoßen ist oder ob sein Verleger Ricordi oder gar sein Komponistenfreund Ruggero Leoncavallo ihn auf die „Scènes“ aufmerksam gemacht haben, ist unklar. Leoncavallo behauptete, er habe Puccini den Stoff angeboten, doch als dieser ihn ablehnte, begann er stattdessen seine eigene „Bohème“ zu komponieren. Die Uraufführung fand 1897 statt, ein Jahr nach Puccinis unerreichtem Meisterwerk. An der Konkurrenz zwischen den beiden Männern zerbrach ihre jahrelange Freundschaft.
28 Jahre alt war Arturo Toscanini, als er am 1. Februar 1896 am Teatro Regio von Turin die Uraufführung von Puccinis „La Bohème“ dirigierte. Genau 50 Jahre später entstand seine Aufnahme des Werkes, das zu den populärsten und meistgespielten Opern aller Zeiten gehört. Umso erstaunlicher, dass "La Bohème" bei ihrer Premiere quasi durchfiel. Die einen kritisierten den Stoff: „Wie konnte sich der Komponist nur in diese jämmerlichen Niederungen der Bohème verirren, mit ihrer Atmosphäre der Hinterhöfe und Mansarden, der Schwindsucht und der Prostitution.“ Den anderen missfiel die Musik: „Sie ist oberflächlich. Und so wie diese Bohème keinen tiefen Eindruck beim Hörer hinterlässt, so wird sie auch keine bedeutende Spur in der Operngeschichte hinterlassen.“ Weitere Aufführungs-Misserfolge in Rom und Neapel schienen die Verrisse der Kritiker zunächst zu bestätigen, bis "La Bohème" am 14. April 1896 in Palermo ihren ersten Triumph feierte. Ein Jahr später gab der große Enrico Caruso sein Rollendebüt als Rodolfo.
Was die Kritiker anfangs als "jämmerlich" und "oberflächlich" monierten, ist tatsächlich Puccinis einzigartiges Genie des Verismo: eine realistische Wahrhaftigkeit, wie es sie in der Oper noch nie gegeben hatte: Puccini über den Stoff: „In dem Buch war alles, was ich suchte und liebe: die Frische, die Jugend, die Leidenschaft, die Fröhlichkeit, die schweigend vergossenen Tränen, die Liebe mit ihren Freuden und Leiden. Das ist Menschlichkeit, das ist Empfindung, das ist Herz. Und das ist vor allem Poesie, die göttliche Poesie. Sofort sagte ich mir: das ist der ideale Stoff für eine Oper.“
Die Handlung in Kürze zusammengefasst: Vier Freunde leben zusammen in einer armseligen Mansarde in Paris: der Dichter Rudolf, der Maler Marcel, der Musiker Schaunard und der Philosoph Colline. Sie sind Bohemiens und haben nur wenig Geld. Es ist Weihnachten. Sie wollen ins Café Momus gehen und dort feiern. Rudolf bleibt aber noch in der Wohnung, um zu arbeiten. Da klopft jemand an die Tür: Es ist ein bezaubernd schönes Mädchen. Sie heißt Mimi und bittet um Feuer für ihre Kerze. Rudolf und Mimi verlieben sich; sie gehen zusammen ins Café zu den Freunden. Musette, eine ehemalige Geliebte Marcels, kommt auch ins Café Momus. Sie ist in Begleitung ihres ältlichen Verehrers Alcindoro, doch bald setzt sie sich zu Marcel an den Tisch und verdreht ihm den Kopf. Als die Freunde das Café verlassen, bleibt Alcindoro zurück und darf für alle die Zeche bezahlen. Doch schon bald haben sich die Paare getrennt, und die vier Männer leben wieder in ihrer Mansarde. Da kommt überraschend Musette zu ihnen; sie bringt die sterbenskranke Mimi mit...
Drei verschiedene Aufführungen stelle ich Ihnen heute zur Auswahl - zunächst die Inszenierung von John Copley am Londoner Royal Opera House Covent Garden. Am 15. Juli 2014 sangen in den Hauptrollen Angela Gheorghiu (Mimi), Vittorio Grigolo (Rodolfo), Irina Lungu (Musetta) und Massimo Cavalletti (Marcello), die musikalische Leitung hatte Cornelius Meister:
Herbert von Karajans und Franco Zeffirellis "La Bohème"-Verfilmung gilt heute als Klassiker des Opernfilms. Sie basiert auf Zeffirellis Mailänder Inszenierung von 1963 und markiert nicht nur den Beginn von Karajans langer Beschäftigung mit dem Medium Film; es ist zugleich auch der erste Kinofilm Zeffirellis. In den Hauptrollen sind
Mirella Freni (Mimi), Gianni Raimondi (Rodolfo), Adriane Martino (Musetta) und Rolando Panerai (Marcello) zu sehen, es spielt das Orchester der Mailänder Scala unter der Leitung von Herbert von Karajan:
Und hier noch eine echte Rarität für alle Carlos-Kleiber-Fans, ebenfalls in der Inszenierung von Franco Zeffirelli: Am 22. März 1979 dirigierte der scheue Pultstar, der diese Oper übrigens nicht im Schallplattenstudio aufgenommen hat, Puccinis Meisterwerk an der Mailänder Scala, die Hauptpartien waren mit Ileana Cotrubas (Mimi), Luciano Pavarotti (Rodolfo), Lucia Popp (Musetta) und Lorenzo Saccomani (Marcello) besetzt:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler