Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
zu Recht ist Peter Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 b-moll op. 23 ein Renner im Konzertsaal und wurde in dieser Reihe längst vorgestellt. Ausverkaufte Konzerthäuser und ein begeistertes Publikum sind bei diesem Stück noch immer zu erwarten - ganz anders als bei Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 2 G-Dur op. 44, das vergleichsweise selten aufgeführt wird und das ich Ihnen heute gerne vorstellen möchte.
„Ich glaube, es ist die Pflicht des Künstlers, nie aufzugeben, denn Trägheit ist ein nur allzu menschlicher Charakterzug. Nichts Schlimmeres kann einem Künstler widerfahren, als dass er ihr verfällt. Er sollte auch nicht darauf warten, dass ihn Inspiration anfliegt. Sie gehört nicht zu den Besuchern, die unaufgefordert zum Faulenzer kommen, sondern gibt sich nur denen hin, die sie rufen.“ - Auch wenn Peter Tschaikowsky einmal keinen Kompositionsauftrag vor der Nase hatte, gab er sich getreu der zitierten Briefstelle mitnichten dem Müßiggang hin, sondern zwang sich regelrecht zur Arbeit. Andernfalls drohten ihm selbst in Zeiten wachsenden Ruhmes Depressionszustände - so auch im Spätsommer 1879.
Um der produktiven Flaute zu entgehen, machte sich Tschaikowsky in Kamenka, dem Landhaus seiner Schwester bei Kiew, schließlich an die Skizzen zu seinem zweiten Klavierkonzert. Die Fertigstellung verzögerte sich indes, denn die ungerufene Inspiration zum Capriccio italien op. 45 kam dazwischen. Der Moskauer Pianist und Dirigent Nikolaj Rubinstein, der mit umwerfenden Interpretationen des vormals verschmähten ersten Klavierkonzerts mittlerweile wieder hoch in Tschaikowskys Gunst stand und für den der Komponist daher im Oktober 1879 sein zweites Klavierkonzert zu schreiben begann, war erneut skeptisch: „Nun erzählt mir Rubinstein, dass seiner Meinung nach der Klavierpart zu episodisch sei, und dass er sich nicht ausreichend vom Orchester abhebe“, berichtete Tschaikowsky seiner Gönnerin Nadeschda von Meck 1880 nach Übersendung der fertigen Partitur. „Sollte dies der Fall sein, wäre es sehr ärgerlich, denn gerade in dieser Hinsicht ertrug ich große Schmerzen, um das Soloinstrument gegen den orchestralen Hintergrund in den Vordergrund zu bringen.“ In der Tat hatte Tschaikowsky etwa in den ersten Satz des Konzerts gleich mehrere Solo-Kadenzen eingeschoben, in denen sich der Pianist à la Liszt „in den Vordergrund“ drängen darf.
Darüber hinaus ist auch der zupackende, im besten Sinne unterhaltende dritte Satz, bei dessen Hauptthema der Pianist sogar die Führung übernimmt, mit zahlreichen virtuosen Oktavpassagen des Klaviers gespickt. Einzig im zweiten Satz hätten Pianisten gute Gründe, sich unterrepräsentiert zu fühlen: Dieses Andante gibt sich mit einem ariosen Prolog zunächst als Violinkonzert aus, wandelt sich im Duett zwischen Geige und Cello sodann zum Doppelkonzert - und erinnert erst nach 65 Takten daran, dass auch noch ein Klaviersolist auf dem Podium sitzt. Nachdem dieser das Thema solistisch wie ein Chopin-Nocturne aufgegriffen hat und der Mittelteil in regelrechten Kadenzen wiederum die beiden Streicher in den Mittelpunkt gerückt hat, spielen Geige, Cello und Klavier das Thema im kammermusikalischen Verbund eines Klaviertrios - so wie es Tschaikowsky später zum Gedenken an Nikolaj Rubinstein komponieren sollte. Dieser war 1881 nämlich kurz vor der Premiere des G-Dur-Konzerts verstorben und konnte - tragische Ironie der Geschichte - diesmal unfreiwillig erneut nicht der Uraufführungssolist eines Klavierkonzertes von Tschaikowsky sein.
Vor wenigen Wochen habe ich dieses Klavierkonzert mit der Staatskapelle Berlin erleben dürfen - und meine Vorahnungen wurden leider bestätigt: Die Philharmonie war nicht einmal zur Hälfte verkauft; wie leer der Saal dann noch zu Corona-Zeiten war, können Sie leicht erahnen. Solist an diesem Abend war Alexandre Kantorow, Jahrgang 1997 - und von ihm wird man in den kommenden Jahren garantiert noch sehr viel hören. Hier ist er mit Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 2 op. 44 zu sehen, Valery Gergiev dirigierte am 21. Dezember 2019 das Mariinsky Orchester im gleichnamigen Theater in St. Petersburg - als Zugabe spielt Alexandre Kantorow "Valse Triste" von Ferenc Vecsey/György Cziffra:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler