Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
der Kanon "Bruder Jakob" als Trauermarsch in einer Sinfonie - und dann noch in Moll? Musikkenner wissen sofort, welches Stück gemeint ist: Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 D-Dur.
Lange hatte Gustav Mahler "nur" dirigiert; aber das genügte ihm nicht mehr. 28 Jahre war Mahler alt, als er im Jahr 1888 seine erste Sinfonie vollendete. Als Dirigent hatte er sich an der Oper Leipzig bereits einen Namen gemacht, nun wollte er auch als Komponist durchstarten. Die Sinfonie gilt als Königsdisziplin eines Komponisten, sie steht in einer langen Tradition und muss bestimmten Kompositionsregeln folgen. Gleichzeitig soll sie etwas Neues bieten. Mahler wusste natürlich um das schwere Erbe, dennoch machte er sich mit Übermut und voller Idealismus ans Werk.
Er griff in die Vollen: große Orchesterbesetzung, große Bühne, große Gefühle, großes Thema - "Titan" nannte er sein Werk. In der griechischen Mythologie ist das ein menschlicher Riese. In Mahlers erster Sinfonie geht es aber nicht nur um einen bestimmten Helden, sondern gleich um die ganze Schöpfung. Es ist ein Loblied auf das Leben mit seinen schwindelerregenden Höhen und dröhnenden Tiefen. Mahler selbst schreibt vom "Erwachen der Natur aus langem Winterschlaf", vom Fortgang des Lebens "in vollen Segeln". Doch dann wird die Idylle immer häufiger gestört. Bis schließlich der letzte Abschnitt "wie ein Blitz aus dunkler Wolke" den Todeskampf und die Höllenfahrt einläutet.
Gustav Mahlers erste Sinfonie entstand in den Jahren 1885 bis 1888 in Kassel und Leipzig. Der Titel "Titan" bezog sich auf den gleichnamigen Roman Jean Pauls, Mahler zog ihn allerdings später zurück. Das Werk zeigt bereits alle Charakteristika, die für Mahler als Sinfoniker später ebenfalls von Bedeutung sind. Zu nennen sind die zur Monumentalität tendierende Großform, eine Art Innendramaturgie, die auf das Finale hinführt und die Einbeziehung großer Teile volkstümlicher Musik. Auch die abrupten Wechsel von glühender Expressivität, Euphorie, Todesnähe, Tragik, Groteske und Ironie zählen dazu. Im November 1889 wurde die Sinfonie unter der Leitung des Komponisten in Budapest als "Sinfonische Dichtung" uraufgeführt; danach hat Gustav Mahler das Werk noch mehrfach umgearbeitet.
In der heute in der Regel zu hörenden viersätzigen Fassung (den Satz "Blumine" hat Mahler herausgenommen) beginnt das Werk wie im Nebel, mit einem kaum wahrnehmbaren, stehenden Ton. Einzelne Bläserstimmen nimmt man wahr. Ein dichter, ungeheuer moderner Einstieg in eine Klangwelt, die im zweiten Satz mit einem derben, volkstümlichen Ländler fortgeführt wird. Der bekannte Kanon "Bruder Jakob", gespielt vom Kontrabass, leitet den dritten Satz ein, einen grotesken Trauermarsch mit Blaskapelle. Im vierten Satz "Stürmisch bewegt" nimmt Mahler Bezug auf den ersten und endet jubelnd in strahlendem D-Dur.
Wer noch etwas mehr über die erste Sinfonie erfahren möchte, dem sei eine kurze Einführung aus der Reihe "Klassik shorts" des Bayerischen Rundfunks mit Maximilian Maier empfohlen:
www.youtube.com/watch
Zu den bedeutenden Mahler-Dirigenten der letzten Jahrzehnte gehört Claudio Abbado. Mit den Berliner Philharmonikern gab er im Dezember 1989 sein Antrittskonzert als Chefdirigent:
www.youtube.com/watch
20 Jahre später, im August 2009, dirigierte Claudio Abbado das Werk noch einmal in Luzern. Wer vergleichen möchte: Der Mitschnitt mit dem Lucerne Festival Orchestra ist hier zu sehen:
www.youtube.com/watch
Und zum Abschluss: Kein Mahler-Werk ohne Leonard Bernstein - hier die erste Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern, aufgezeichnet im Oktober 1974 im Wiener Musikverein:
www.youtube.com/watch
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler