Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
über unser heutiges Musikstück hat Leonard Bernstein laut gelacht, als er es in jungen Jahren erstmals hörte - kein Wunder, denn musikalischer Witz ist in diesem Stück reichlich vorhanden. Die Rede ist von Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 1 D-Dur op. 25, der sogenannten "Symphonie classique".
Dieses Werk ist eine der amüsantesten Fälschungen der Musikgeschichte. Prokofjew hat die Musik Joseph Haydns bereits auf dem Konservatorium schätzen gelernt. 1916, lange bevor der Begriff "Neoklassizismus" in aller Munde war, fasste er den Entschluss, eine Sinfonie nach der Art Haydns zu komponieren. Das Ergebnis ist tatsächlich eine Sinfonie, die fast wie Haydn klingt - aber eben nur fast. Überall baut Prokofjew kleine Fußangeln ein, plötzliche harmonische Wendungen, falsche Schlüsse, irreguläre Rhythmen. Immer wenn der Hörer sich auf sicherem Terrain fühlt, wird er auf liebenswürdige Weise aufs Glatteis geführt.
Mit "moderner Musik" hat das Ganze nichts zu tun. Prokofjew gab dem Stück den Untertitel "Symphonie classique" - "in der Absicht", wie er sagte, "die Philister zu ärgern, und außerdem in der heimlichen Hoffnung, letzten Endes zu gewinnen, wenn sich die Sinfonie als wirklich "klassisch" erweisen sollte." Diese Hoffnung hat sich erfüllt: Die Symphonie classique ist eines der beliebtesten Werke des 20. Jahrhunderts.
St. Petersburg, 21. April 1918, der Tag der Uraufführung - ausgerechnet das Jahr, in dem Europa in den Flammen des Ersten Weltkriegs untergeht und Russland im Chaos der Revolutionen steckt. Die Premiere geht in den Wirren der Zeit fast vollkommen unter. Unter den Zuhörern befindet sich ein Kommissar für Volksbildung. Ihm gefällt das Stück, er besucht Prokofjew im Künstlerzimmer und verschafft ihm großzügig eine Ausreisegenehmigung für eine kleine Tournee zur Inspiration. Prokofjew ergreift die Chance und kehrt erst zehn Jahre später, von Heimweh getrieben, wieder zurück in die nun schon von Stalin beherrschte Sowjetunion. So ausgelassen, so unbeschwert und übermütig wie in seiner ersten Sinfonie wird er jedoch nie wieder komponieren.
Unser heutiger Konzertmitschnitt entstand am 24. Mai 2019 im Kölner WDR-Funkhaus: Das WDR-Funkhausorchester spielt Prokofjews Symphonie classique unter der Leitung von Alondra de la Parra:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler