Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
nach langer Zeit war es am Freitagabend letzter Woche für mich endlich wieder soweit: Ein Konzertbesuch bei den Berliner Philharmonikern in der Philharmonie; Publikum, Orchester und Dirigent (Herbert Blomstedt, der in wenigen Wochen unglaubliche 95 Jahre alt wird) waren in Hochstimmung - es war einfach großartig, dieses Orchester wieder einmal live erleben zu können.
Dabei verströmte das Programm alles andere als Jubel, Trubel, Heiterkeit. Das erste Stück des Abends war die Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63 von Jean Sibelius, alles andere als ein Publikumsrenner. Es lohnt sich dennoch sehr, dieses Werk kennenzulernen.
Im November 1907 dirigierte Gustav Mahler in Helsinki. Auf Spaziergängen mit Sibelius stritten beide über das Wesen der Sinfonie. Mahler forderte, eine Sinfonie müsse „wie die Welt sein und alles umfassen“, Sibelius forderte, eine Sinfonie müsse „strenge innere Logik zeigen“. Mit seiner vierten Sinfonie äußerte Sibelius seinen "Protest gegen die Gegenwartsmusik" und setzte dem "Zirkus" gigantischer Besetzungen ein vergleichsweise klassizistisches Stück entgegen, dessen kammermusikalisch transparenter Duktus zu einem verinnerlichten Ausdruck führt: "Dies ist mein am meisten vergeistigtes Werk."
Musikalische Keimzelle, aus dem Sibelius das Werk entwickelt, ist der Tritonus, der gleich zu Beginn aus den Fagotten, Kontrabässen und Violoncelli aufsteigt. Sibelius schlägt einen tragischen, düsteren, manchmal schwer auf der Seele lastenden Ton an. Entstanden ist das Werk in den Jahren 1909 bis 1911. Zuvor, im Jahr 1908, wurde der Komponist wegen eines Tumors in Berlin am Hals operiert und musste eine schwere Krise überwinden. Im Frühjahr 1910 war er bereit: „Ich erlebte so erhabene Augenblicke der Schaffensqual wie nie zuvor.“ Sibelius' Vierte ist natürlich nicht bloß eine Spiegelung seiner Krankheit. Der Komponist selbst hat oft betont, seinen Sinfonien lägen keine "Programme“ zugrunde. Dennoch hat auch Sibelius bemerkt, dass immer mal wieder ein Abbild seines seelischen Zustandes in der Musik haften geblieben ist.
Sein letztes Konzert als Chefdirigent des Orchestre de Paris bestritt Daniel Harding am 20. Juni 2019 in der Pariser Philharmonie mit diesem Werk. Als Zugabe wurde der Dirigent noch mit einem Arrangement von Luciano Berio überrascht: Unter der Leitung von Lionel Sow singen und musizieren der Chor und das Orchestre de Paris "An die Musik" von Franz Schubert - den Mitschnitt sehen Sie im folgenden Link:
Das zweite Werk des Abends am vergangenen Freitag in der Berliner Philharmonie war übrigens die Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 von Johannes Brahms - mehr hierzu in Folge 187 am kommenden Mittwoch.
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler