Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
vorweg eine Warnung: Das heutige Musikstück wird entweder Begeisterung oder Entsetzen auslösen. Heute lade ich Sie zu einem knapp 10-minütigen Werk mit einer großartigen Musikerin ein: "Mysteries of the Macabre" von Györgi Ligeti - ein in jeder Hinsicht "schrilles" Werk.
Wenn eine klassische Künstlerin mit einem Youtube-Clip über 60.000 Klicks binnen kurzer Zeit erreicht, will das schon etwas heißen. Dies gelang Barbara Hannigan mit der Aufzeichnung von György Ligetis "Mysteries of the Macabre", in der sie als aufsässiges, Kaugummi kauendes Schulmädchen in Erscheinung tritt. Am Dirigentenpult
steht dabei niemand Geringerer als Sir Simon Rattle, der das London Symphony Orchestra durch Ligetis rhythmisch komplexe Komposition führt.
Der Weltuntergang findet nicht statt, weil der Tod zu betrunken ist. Eine ebenso absurde, wie groteske Vorstellung, die den ungarischen Komponisten György Ligeti zu seiner Oper "Le Grand Macabre" veranlasste, die Mitte der 1970er-Jahre im Auftrag der Königlichen Oper Stockholm entstand. Die Vorlage bildete das Theaterstück "La Balade du Grand Macabre", das der belgische Dichter Michel de Ghelderode 1934, ein Jahr nach Hitlers Machtantritt, als satirische Tragikomödie gegen die Nationalsozialisten schrieb. "Ich habe etwas Allgemeineres daraus gemacht", sagte Ligeti in einem Interview. „Es ist die Angst vor dem Tod, die Apotheose der Angst und das Überwinden der Angst durch Komik, durch Humor, durch Groteske - das ist das große Thema des Stücks. Eigentlich nichts Besonderes, denn wir alle verdrängen, dass wir sterben müssen." So fasste György Ligeti seine Oper "Le Grand Macabre" zusammen.
György Ligeti wurde 1923 in Ungarn geboren und studierte u. a. bei Sándor Veress, Pál Járdányi und Lajos Bárdos an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest. Nach der Niederschlagung des Aufstandes 1956 verließ er Ungarn und übersiedelte in die Bundesrepublik Deutschland. Im Studio für elektronische Musik des WDR Köln setzte er sich intensiv mit der Musik von Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und Pierre Boulez auseinander. In den 1960er Jahren wirkte Ligeti als Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und als Gastprofessor an der Stockholmer Musikhochschule. 1973 wurde er als Professor für Komposition an die Hamburger Musikhochschule berufen. Als Hochschullehrer und als Komponist prägte Ligeti maßgeblich die internationale zeitgenössische Musik und wurde zum musikästhetischen Bezugspunkt einer ganzen Generation. Neben den Mitgliedschaften in der Freien Akademie der Künste in Hamburg und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München wurde Ligeti mit zahlreichen Preisen geehrt. Er starb 2006 in Wien.
Was Ligetis Oper "Le Grand Macabre" neben dem Inhalt auszeichnet: der lustvolle und spielerische Umgang mit musikalischen Traditionen, die geistreich und subtil transformiert werden - angefangen von der von Autohupen intonierten Ouvertüre, eine Anspielung an die Eröffnungsfanfare von Monteverdis Orfeo, über die Zitate aus Opern von Mozart, Rossini, Verdi, Wagner, Offenbach und Strauss bis hin zu Jazz- und Pop-Standards. Barocke Bassmodelle wie die Passacaglia und Chaconne sind ebenso vertreten wie moderne Tanzrhythmen. Sängern und Instrumentalisten verlangt Ligeti das Äußerste ab: aberwitzige Koloraturen, schrille Cluster, komplexe Rhythmik, oszillierende Klangflächen. Die "Mysteries of the Macabre" sind Bearbeitungen von drei Koloraturarien des Chefs der "Geheimen Politischen Polizei".
Mit Barbara Hannigan und Sir Simon Rattle finden sich augen- und ohrenscheinlich zwei Meister für die Musik des 20. Jahrhunderts. Schon seit geraumer Zeit hat sich die Künstlerin, die auch als erfolgreiche Dirigentin in Erscheinung tritt, einen Namen im Bereich der Neuen Musik gemacht und gilt als Gallionsfigur der Moderne, ist dabei aber so vielseitig, dass sie auch schon in Barockopern brillieren konnte. Hier der Mitschnitt von Ligetis "Mysteries of the Macabre" vom 15. Januar 2015 aus der Londoner Barbican Hall mit Barbara Hannigan und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle:
Dass Barbara Hannigan nicht nur eine großartige Sängerin ist, sondern auch noch dirigiert, mag man sich vielleicht noch vorstellen - dass sie aber durchaus in der Lage ist, Ligetis kompliziertes Werk auch noch zu dirigieren, während sie selbst singt, ist eigentlich kaum noch zu glauben. Aus einem sehr sehenswerten Porträt sind im folgenden Link ein paar Szenen zusammengestellt - in der Luzerner Aufführung von Ligetis "Mysteries of the Macabre" mit dem Mahler Chamber Orchestra im Jahr 2014 tauchte sogar noch ein prominenter Gast auf:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler