Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
in der letzten Ausgabe habe ich Ihnen einen Konzertausschnitt vorgestellt, bei dem ich das Glück hatte, im Saal dabei zu sein. Manuel de Fallas "Nächte in spanischen Gärten" standen nach der Konzertpause auf dem Programm, aber auch der erste Konzertteil verdient es, hier erwähnt zu werden. Und somit ist die heutige Ausgabe einem Solokonzert gewidmet, dessen Finalsatz einmal als "Polonaise für Eisbären" bezeichnet worden ist: Das Violinkonzert d-Moll op. 47 von Jean Sibelius - keine schlechte Wahl für die zu erwartenden eisigen Temperaturen an diesem Wochenende.
Keinem skandinavischen Komponisten sind Klischee-Zuschreibungen wohl mehr zum Verhängnis geworden als dem Finnen Jean Sibelius. Erstens schuf er mit der „Finlandia“ die inoffizielle Hymne seines Heimatlandes. Zweitens ging er im Laufe des 20. Jahrhunderts seine eigenen, also nicht immer modernen Wege. Und drittens zog er sich schon bald in sein einsames Landhaus zurück. Fortan war er also der „grüblerische Finne“. Doch in seinem in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Violinkonzert hören wir: Sibelius war trotz seiner abgeschiedenen Lebensweise ein europäischer Komponist mit immenser Bedeutung für die Musikgeschichte. Wer bei ihm nur Weite, Wälder und Wehmut hören will, tut ihm Unrecht.
Sibelius vollendete die Erstfassung seines Violinkonzerts im Jahr 1903; uraufgeführt wurde das Werk im 1904 mit mäßigem Erfolg durch Victor Novacek. Die revidierte Fassung gelangte 1905 in Berlin zur erfolgreichen Aufführung; Karl Halir war der Solist, Richard Strauss dirigierte die Berliner Hofkapelle. Von Haus aus Geiger, hatte Sibelius den Violinpart der Frühfassung mit übermäßigen technischen Schwierigkeiten ausgestattet. In der revidierten Fassung nahm er zahlreiche Änderungen vor, und in dieser Gestalt gehört das Werk seither zum Standardrepertoire. Sibelius widmete das Konzert dem jungen ungarischen Virtuosen Ferenc Vecsey, der das Werk in einer späteren Aufführung in Berlin in Anwesenheit des Komponisten spielte. Der richtige Durchbruch erfolgte allerdings erst viele Jahre später, als grandiose Instrumentalisten wie Jascha Heifetz, David Oistrach oder Ginette Neveu das Konzert in ihr Repertoire aufnahmen.
Mittlerweile gilt das Violinkonzert von Sibelius als das am häufigsten aufgeführte und aufgenommene Violinkonzert des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt auch deswegen, weil es eben nicht nach 20. Jahrhundert klingt. Das Konzert steht ganz in spätromantischer Tradition und steht in direkter Nachfolge des Beethoven- und des Tschaikowsky-Konzerts. Es beginnt mit dem Einsatz des Solisten über einem geheimnisvollen Schleier der sordinierten Orchesterstreicher. Obwohl der Satz traditionell in dreiteiliger Form angelegt ist, tritt eine kadenzähnliche Passage der Solovioline an die Stelle der zentralen Durchführung. Der lyrische langsame Satz wartet mit einer zutiefst romantischen Melodie auf, die der Solist in der Folge fantasieartig über dem Orchester fortspinnt. Es folgt das vom Komponisten einmal als "Danse macabre" beschriebene Finale und bietet dem Solisten Gelegenheit zu virtuoser Brillanz. Den englischen Pianisten und Komponisten Donald Francis Tovey erinnerte das Finale an eine "Polonaise für Eisbären"; eine hübsche Alliteration, die allerdings dem verbreiteten Irrtum unterliegt, es gäbe in Finnland Eisbären - angeblich entstand dieses Missverständnis anlässlich der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900, als der finnische Pavillon auf dem Dach als Ausschmückung zwei Gipsbären trug, die der Bildhauer Emil Wikström in letzter Minute geliefert, aber noch nicht braun bemalt hatte; am nächsten Tag waren die Pariser Zeitungen voll mit Beschreibungen der schönen finnischen Eisbären...
Hier also der angekündigte Mitschnitt vom 9. Juni 1997 aus der Kölner Philharmonie: Maxim Vengerov wird begleitet vom Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim:
Nicht vorenthalten möchte ich Ihnen die halsbrecherische Zugabe - ein Werk, das ich an diesem Abend erstmals gehört habe und mich sofort begeistert hat: Die Sonate Nr. 3 d-Moll "Ballade" op. 27 von Eugène Ysaÿe. 24 Stunden genügten dem Grandseigneur der belgischen Geigenschule, um 1923 in seiner Villa La Chantarelle im Badeort Zout seine sechs Solosonaten zu entwerfen. In jenen ruhigeren Jahren nach dem ersten Weltkrieg hatte Ysaÿe sein Konzertpensum erheblich reduziert, nicht zuletzt wegen seiner beginnenden Diabetis. Diesem Umstand und seiner Obsession für Bach verdanken wir diesen Zyklus. Ysaÿe gelang eine ganz eigene Synthese aus der Polyphonie des großen Vorbilds und spätromantischen Stimmungsbildern. In der dritten Solosonate fand er nach dem Vorbild von Chopins Balladen zu einem rhapsodischen Erzählton, der vom marschartigen Hauptthema beherrscht wird. Das Stück ist einem anderen großen Geiger, George Enescu, gewidmet. Hier also noch einmal Maxim Vengerov:
Und da die Winterabende zur Zeit besonders lang und kalt sind, empfehle ich Ihnen noch drei weitere Aufführungen von dem Sibelius-Violinkonzert. Anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten wurde es im Jahr 2015 von Anne-Sophie Mutter und dem Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Andris Nelsons aufgeführt:
Ebenfalls im Jahr 2015 stand das Konzert in Rom auf dem Programm, Lisa Batiashvili ist hier mit dem Orchestra Sinfonica Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Sir Antonio Pappano zu erleben; als Zugabe folgt noch das georgische Volkslied "Lalem":
Und zuletzt noch mein bisher letztes Live-Erlebnis mit dem Sibelius-Konzert: Joshua Bell spielte das Werk am 13. Dezember 2019 mit dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter der Leitung von Krzysztof Urbański:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler