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05.05.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 169

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

die Gestalt des Wanderers durchzieht als Archetypus Schuberts Schaffen. "Das Wandern ist des Müllers Lust" verkündet der junge Müller noch hoffnungsfroh am Anfang von Schuberts erstem Liederzyklus "Die schöne Müllerin", unserem heutigen Musikstück. Ein junger Müllersbursche ist auf Wanderschaft, er folgt dem Lauf eines Baches, der ihn zu einer Mühle geleitet. Nicht nur die Arbeit, die er dort findet, lässt ihn verweilen, sondern auch die schöne Tochter des Müllers. Ob er ihr seine Liebe je gestanden hat? Klar ist nur, dass die schöne Müllerin bald einen anderen Liebhaber hat, den Jäger. Der Müllersbursche will sich ertränken, am Schluss singt ihm der Bach ein Wiegenlied.


So etwa lässt sich die Geschichte zusammenfassen, die in Schuberts Liederzyklus erzählt wird. Die zugrundeliegenden Gedichte schrieb der Dichter Wilhelm Müller, der auch den Text von Schuberts zweitem Liederzyklus "Winterreise" verfasst hat. Im November 1823 berichtete Schubert seinem Freund Franz von Schober: „Ich habe seit der Oper nichts componirt, als ein paar Müllerlieder“, wobei mit der Oper "Fierrabras" gemeint war. Was Schubert hier so lapidar und nebenbei ankündigte, war nichts Geringeres als der erste erzählende Liederzyklus der Romantik. Schubert hatte damit ein klassisches Genre kreiert, das für Schumann, Brahms und Wolf zum Zentrum ihres Liedschaffens werden sollte und ihnen die Überhöhung der Kleinform im Zyklus ermöglichte.

Das Motiv des unglücklich verliebten Müllersburschen war beliebt in der Literatur der Jahre um 1800. Und so sind Wilhelm Müllers Gedichte aus dem literarischen Gesellschaftsspiel eines Berliner Salons entstanden, in dem er 1815 verkehrte. In einer ersten Fassung entwickelte Müller zusammen mit Freunden wie Clemens Brentano, Achim von Arnim und den Geschwistern Hensel ein unterhaltsames Stegreif-Singspiel. Sie dichteten eigene Texte darüber, wie die schöne Müllerin Rose vom Müllerburschen, vom Jäger, vom Junker und vom Gärtnerknaben gleichzeitig umworben wird und sich letztlich für den Jäger entscheidet. Ludwig Berger, Berliner Pianist und Klavierlehrer Mendelssohns, schrieb die Musik dazu. Aus diesem spaßigen Zeitvertreib entstand mit Prolog und Epilog ein Zyklus von 25 Gedichten, von denen Schubert später 20 vertonte. 

Schuberts "Schöne Müllerin" entstand im Herbst 1823 während eines Krankenhausaufenthaltes, der vermutlich wegen einer Syphilisinfektion notwendig geworden war. Nur ein Gedanke beherrscht den jungen Müllersburschen: "Die geliebte Müllerin ist mein!" Aber das sagt er nicht ihr, sondern dem Bach, seinem treuen Weggefährten, der ihn am Ende in sich aufnehmen wird. 

Es gibt wohl kaum einen Liedersänger, der um diesen Zyklus einen Bogen macht. Erst vor ein paar Wochen erschien wieder eine sehr gelungene Neueinspielung mit dem Bariton Andrè Schuen und dem Pianisten Daniel Heide. Beide stellen hier das Werk kurz vor:

www.youtube.com/watch

Wer Schuberts ersten Liederzyklus komplett hören möchte, hat in den folgenden zwei Links dazu Gelegenheit - wahlweise mit Tenor oder Bariton. Zunächst ein Mitschnitt aus Japan vom 21. März 2004 mit Ian Bostridge und Mitsuko Uchida:

www.youtube.com/watch

Sensationell und bis heute Maßstäbe setzend ist die Beschäftigung Dietrich Fischer-Dieskaus mit Franz Schubert. Als er sich daran machte, Anfang der 1950er Jahre  ganze Liederzyklen des Komponisten aufzunehmen, fiel er damit noch völlig aus dem Rahmen. Das Publikum war es gewohnt, einzelne Stücke im Rahmen von Recitals zu erleben, jedoch nicht eine komplette „Dichterliebe“ oder „Schöne Müllerin“ vorgesetzt zu bekommen. So war es für manchen eine Zumutung, für viele aber eine Offenbarung, als Fischer-Dieskau zunächst mit den geläufigsten Zyklen wie „Winterreise“, „Die schöne Müllerin“ oder „Dichterliebe“ auf LP in Erscheinung trat. Da der junge Bariton aus Berlin darüber hinaus über eine frappante Stimmtechnik und interpretatorische Reife verfügte, war es für viele Musikfreunde in Deutschland überhaupt das erste Mal, dass Schubert ihnen in dieser umfassenden, kompetenten Form nahe gebracht wurde. 

Doch Fischer-Dieskau hatte noch mehr vor. Es ging ihm nicht nur um die Highlights des Repertoires oder einzelne Zyklen, er wollte das Liedschaffen Schuberts in seiner Gänze auf Tonträger dokumentieren. Das war in vieler Hinsicht ein ehrgeiziges Unterfangen. Es bedeutete, rund 600 Lieder zu lernen, zu interpretieren und dabei möglichst durchgehend das gleiche hohe Niveau der Darstellung zu halten. Er machte sich gemeinsam mit seinem kongenialen Begleiter Gerald Moore am Klavier ans Werk und sang und sang und sang. So entstand die erste komplette Aufnahme der Schubert-Lieder der Schallplattengeschichte, eine Pioniertat, die nicht nur die künstlerische Kompetenz des unermüdlichen Interpreten dokumentierte, sondern diese Werke für die meisten Klassikfreunde überhaupt zum ersten Mal zugänglich und hörbar machte - bis heute ein Meilenstein, der aufgrund der ungeheuren Musikalität Fischer-Dieskaus nichts von seiner Bedeutung verloren hat. 

Eines seiner letzten Konzerte mit Schuberts "Die schöne Müllerin" fand 1991 in der Pariser Salle Pleyel statt; Dietrich Fischer-Dieskau wurde begleitet von Christoph Eschenbach:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler