Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück ist ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts - und unter enormen nervlichen Anspannungen entstanden: Das Violinkonzert a-moll op. 77 von Dmitri Schostakowitsch. Die Entstehungsgeschichte liest sich wie ein Krimi...
"Chaos statt Musik" - 1936 erschien ein Hetzartikel dieses Namens in der "Prawda". Dmitri Schostakowitsch wurde geschmäht: Der Komponist war ins Blickfeld von Josef Stalin geraten. Ein Berufsverbot für den Musiker drohte. Von nun an beherrschte Angst sein Leben. Ein lebenslanger Seiltanz zwischen Angst und Anpassung begann. Der Komponist lernte, seine Gedanken ohne Worte in Tönen auszudrücken. So auch in seinem ersten Violinkonzert, das jahrelang, bis nach dem Tod des Diktators, auf seine Uraufführung warten musste.
Das Konzert wurde 1948 für den großen David Oistrach geschrieben, damals wie heute eine Legende - und landete zunächst in der Schublade, Stalin war noch an der Macht. Der Diktator entdeckte nach dem Krieg die Musik als Gegenstand der Politik wieder und als Mittel der Propaganda zur "vaterländischen Erbauung der proletarischen Klasse". Sinfonien und Konzerte galten von nun an als dekadent. Schostakowitsch geriet in diesem Jahr zum zweiten Mal in seinem Leben in den Mittelpunkt einer Hetz-Kampagne. Andrej Schdanow - ein Funktionär, im Politbüro mit der Durchsetzung der neuen musikpolitischen Leitlinien beauftragt - zitierte im Frühjahr 1948 als Stalins Handlanger 70 Komponisten nach Moskau und geißelte die Musik des schon einmal geschmähten Schostakowitsch sowie mehrerer seiner Kollegen. Das Dekret des Zentralkomitees zur Musik ist ein Dokument von atemberaubender Aggressivität. Jeder bedeutende Sowjetkomponist wurde darin öffentlich gedemütigt, jedes Werk verfiel dem Verdikt, es spreche „das Volk“ nicht an. Schostakowitsch hatte ähnliches zwar bereits erlebt. Doch niemand, auch er nicht, war auf Schdanows Attacke auf die sowjetische Musik gefasst. "Auch wenn es mir schwer fällt, die Verurteilung meiner Musik, vor allem die Kritik des ZK anzuhören, so weiß ich, dass die Partei recht hat", verlas der Komponist eine Erklärung, die ihm ein Freund auf einem Zettel geschrieben hatte: "Dass es die Partei gut mit mir meint und dass es meine Aufgabe ist, Wege zu suchen und zu finden, die mich zum sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen führen."
Schostakowitsch gelobte Besserung und komponierte nun auch einige Werke, die der herrschenden Klasse gefielen. Der Komponist, der seine Lehrstühle verlor, war gezwungen, wieder als Pianist aufzutreten, er zog sich zurück. Im selben Monat, im Februar 1948, arbeitete Schostakowitsch am Finale des Violinkonzerts für Oistrach, mit dessen Komposition er im Juli davor begonnen hatte. Das Schdanow-Dekret und die Säuberung des Repertoires von Musik, die zuvor als leuchtende Beispiele der Sowjetkunst gegolten hatte, hinderten ihn nicht daran, das Werk im März abzuschließen. Die neue Gefährdung des Kulturleben jedoch hielt ihn davon ab, das zutiefst ernste und in vielen Momenten auch private neue Violinkonzert zu veröffentlichen.
1955 steht David Oistrach in Leningrad vor dem Orchester im berühmten Saal des Mariinsky-Theaters, Yevgeny Mrawinsky dirigiert. Es erklingt jenes Werk, das für sieben Jahre in der Schublade verschwunden war. Ein Zufall? Schostakowitsch hat dies ausgerechnet der Beharrlichkeit eines amerikanischen Konzertagenten zu verdanken. Der hatte von der Existenz des Stückes schon früher erfahren und bestand nun darauf, dass Oistrach es bei seiner ersten Konzertreise in den USA spielen müsse. Unerwartet wurde nun die Uraufführung in Leningrad möglich. Um den Anschein zu erwecken, es handele sich um ein neues Werk, war dem Konzert kurzerhand die Opus-Nummer 99 verpasst worden. Doch handelte es sich tatsächlich um jenes noch unveröffentlichte Werk aus der Schublade mit der ursprünglichen Opus-Bezeichnung 77. Das Publikum zeigte sich kaum berührt.
Schostakowitsch hatte Angst, dass man erkennen würde, dass in der Musik die Stalin-Zeit abgebildet ist. Man hat gemutmaßt, dass im zweiten Satz mit seinem sehr unregelmäßigen Rhythmus das Stottern des Kulturfunktionärs Schdanow nachgeahmt würde. Schostakowitsch selber sagte einmal, sein erstes Violinkonzert sei „eine Sinfonie für Violine und Orchester“. Am Anfang des Konzerts steht ein langsames Nocturne von düster-träumerischer, bisweilen bedrohlicher Stimmung. Ihm folgt ein brillantes, technisch außerordentlich anspruchsvolles Scherzo, das jedoch keinen Stimmungsumschwung bringt: Es klingt, als sei hier ausgebrochen, was im Nocturne noch dunkel drohte. Den dritten Satz bildet eine staunenswert originelle Passacaglia, deren Thema sich zunächst lautstark im Orchester vorstellt. Vom Solisten beschwichtigt, wird das Passacaglia-Thema neunmal wiederholt und in eine ausgedehnte Solokadenz hineingeführt, die man auch als einen vierten Satz hören kann. Sie wiederum leitet über zu einem dämonischen Finale von grimmigem Sarkasmus.
Zunächst eine Empfehlung aus Tokio: Die Berliner Philharmoniker spielten dort am 26. November 2000 mit Hilary Hahn und Mariss Jansons:
www.youtube.com/watch
Von Tokio geht es nach Köln: Maxim Vengerov ist im folgenden Mitschnitt aus dem Jahr 1996 in der Kölner Philharmonie mit dem WDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Semyon Bychkow zu erleben:
www.youtube.com/watch
Und natürlich darf eine Empfehlung mit dem Uraufführungssolisten David Oistrach nicht fehlen. Mit der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Heinz Fricke musizierte er 1967 Schostakowitschs Opus 77 in der Lindenoper: