Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
als Johannes Brahms 1870 im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien stöbert, entdeckt er den Chorale St. Antoni. Ein kleines Stück Musik aus dem Divertimento B-Dur des Komponisten Joseph Haydn; so glaubt zumindest Brahms über sein Fundstück. Heute sind sich Musikwissenschaftler ziemlich sicher, dass dieser kleine Bläserchoral eher einem Schüler Haydns, Karl Ferdinand Pohl, zuzuschreiben ist. Der Choral muss zwar auf Johannes Brahms einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, doch erst im Sommer 1873 schrieb er in Tutzing am Starnberger See seine Variationen für Orchester über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a.
Der als Reaktionär verschriene Brahms fand mit seinen Variationszyklen sogar die Anerkennung Wagners und Schönbergs. Die anspruchsvollsten Werke dieser Gattung hatten Bach, Beethoven und Schumann für Tasteninstrumente geschrieben. Brahms folgte dieser Tradition mit fünf eigenen Beiträgen, bevor er sich dem großen Apparat der Sinfonie zuwandte. Zwar erstellte er von den Haydn-Variationen auch eine Version für zwei Klaviere (Opus 56b), aber den entscheidenden Schritt in die Zukunft markierte - neben den parallel entstandenen Streichquartetten op. 51 - die Orchesterfassung.
Die Haydn-Variationen bilden die Brücke zwischen Brahms’ Variationszyklen für Klavier und seinem sinfonischen Schaffen. Bis in unsere Zeit sind sie, ohne echte Vorgänger, zum Muster zahlreicher ähnlicher Werke geworden, Komponisten wie Dvořák, Elgar, Reger und nicht zuletzt Schönberg ließen sich von den Haydn-Variationen zu ähnlichen Werken inspirieren. Brahms gibt der Choral-Melodie in acht Variationen verschiedene Farben, wechselt von Dur nach Moll, verleiht ihr einen tänzerisch, fast wilden Charakter, lässt sie geisterhaft wie im Nebel klingen und mündet im Finale in eine Passacaglia. Bei all diesen Wandlungen geht der ursprüngliche Choral nie ganz verloren. Brahms gelang auf engstem Raum und ohne den geringsten Anflug demonstrativer Gelehrsamkeit ein populäres Repertoirestück. Bei der Uraufführung seiner "Variationen über ein Thema von Joseph Haydn" am 2. November 1873 in Wien stand Brahms selbst am Pult.
Einen Mitschnitt aus Wien habe ich für Sie heute ausgewählt: Die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet am 23. Februar 1981 im Musikverein:
Und als Vergleich noch die Klavierfassung: Wenn ein Komponist ein Stück für zwei Pianisten schreiben will, kann er sich entscheiden, ob es für Klavier zu vier Händen sein soll oder für zwei Klaviere. Der Unterschied besteht im Falle von zwei Klavieren in einem erheblichen Zugewinn an gestalterischen und klanglichen Möglichkeiten. Zum einen kann jeder der beiden Pianisten nach Belieben über die gesamte Klaviatur verfügen ohne dass ihm ein anderer ins Gehege kommt. Zum andern ist das Klangpotential erheblich größer als bei nur einem Instrument. Es ist dem eines Orchesters ebenbürtig.
Vor allem dieser Faktor dürfte ausschlaggebend gewesen sein, als sich Johannes Brahms 1873 für eine Zwei-Klavier-Version seiner Haydn-Variationen entschied. In dieser Form eignete sich die Komposition hervorragend als Modell für die geplante Orchester-Version, die fast parallel zur Klavierversion entstand. Heute sind die Haydn-Variationen vor allem in der Fassung für Orchester bekannt. Dabei ist die Klavierfassung so orchestral und farbig wie ein Klavierwerk nur sein kann.
Martha Argerich und Daniel Rivera spielten die Haydn-Variationen am 16. Dezember 2015 im Teatro Petrarca di Arezzo - nach zehnjähriger Umbauzeit wurde das Theater in der Toskana mit diesem Konzert wiedereröffnet:
www.youtube.com/watch
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler