Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
der Titel eines Films mit Ingrid Bergman, Yves Montand und Anthony Perkins aus dem Jahr 1961 leitet die heutige Ausgabe ein: Lieben Sie Brahms? Meine Antwort lautet ja, und so möchte ich Ihnen heute die drei Violinsonaten von Johannes Brahms vorstellen - sehr gerne erinnere mich dabei an ein Konzert, das ich am 9. September 1997 in der Braunschweiger Stadthalle erlebt habe; Anne-Sophie Mutter und Lambert Orkis traten dort mit diesem Programm im Rahmen der Braunschweiger Meisterkonzerte auf.
Johannes Brahms bezeichnete seine drei Violinsonaten als Sonaten „für Klavier und Violine“. Mit der Anzeige der Besetzung in dieser Reihenfolge ist er bewusst dem Beispiel seiner Vorgänger Mozart und Beethoven gefolgt, die damit unterstrichen, dass sich die Musiker in dieser Gattung als gleichberechtigte Partner begegnen sollen, statt der Geige als Solostimme Vorrang vor dem Klavier als Begleitinstrument einzuräumen.
Brahms vollendete seine Violinsonate Nr. 1 G-Dur op. 78 im Jahr 1879. Ihren Beinamen “Regenlied-Sonate” verdankt sie dem Umstand, dass der Komponist im letzten Satz zwei Melodien aus seinen eigenen “Regenliedern” op. 59 Nr. 3 und 4 zitiert. Wie ein roter Faden zieht sich ihr punktierter Rhythmus durch alle Sätze und verleiht der Sonate eine beeindruckende formale Geschlossenheit. An Clara Schumann, deren Sohn Felix (Brahms’ Patenkind) in der Entstehungszeit der Sonate verstarb, schrieb der Komponist mit Blick auf das Adagio: „Liebe Clara, wenn Du Umstehendes recht langsam spielst, sagt es Dir vielleicht deutlicher als ich es sonst könnte, wie herzlich ich an Dich und Felix denke.“ Eine lyrische Grundstimmung und ein unablässiges Strömen der herrlichsten Melodien prägen dieses Werk.
Brahms' Urlaubsaufenthalt am Thuner See im August 1886 wird oft als „Kammermusiksommer“ des Komponisten bezeichnet. Angeregt von der idyllischen Alpenlandschaft des Berner Oberlandes schrieb er neben weiteren Werken auch die Violinsonate Nr. 2 A-Dur op.100. Sie zählt zu den freudvollen Schöpfungen des Komponisten, zugleich stellt sie an das Zusammenspiel der Musiker höchste Anforderungen. Die gleichberechtigte Stellung von Klavier und Violine findet hier gegenüber der ersten Sonate eine nochmalige Steigerung.
In Thun begann Brahms auch die Arbeit an seiner Violinsonate Nr. 3 d-Moll op. 108, die er dort jedoch erst zwei Jahre später, wiederum im Sommerurlaub, vollenden sollte. In ihrer formalen Anlage (die Sonate hat vier Sätze) und ihrer nervösen bis ungestümen Grundstimmung unterscheidet sie sich deutlich von ihren beiden Vorgängern. Brahms widmete das Werk seinem Freund und Kollegen Hans von Bülow. Jener dürfte beim Durchblättern der Partitur einige Züge seines Charakters wiedererkannt haben - so vermuteten es zeitgenössische Kritiker, die in der Sonate ein musikalisches Porträt des temperamentvollen Dirigenten zu hören glaubten.
Das Konzert am 9. September 1997 ist mir aus verschiedenen Gründen in guter Erinnerung geblieben: Zunächst haben mich die beiden Interpreten restlos begeistert - und als Student war ich froh und dankbar, dass es bei den Braunschweiger Meisterkonzerten ermäßigte Eintrittskarten gab. Damals war das längst noch nicht selbstverständlich, bei den Meisterkonzerten ist es aber bis heute der Fall. Zu oft habe ich in meiner Heimatstadt Helmstedt erlebt, wie ein Konzertbesuch als elitärer Kunstgenuss gehandelt wurde und jugendliches Publikum dadurch bewusst ausgeschlossen wurde. Die Folgen sind - nicht nur dort - bis heute spürbar: Viele Konzertveranstalter kämpfen um Publikumsnachwuchs.
An diesem Abend habe ich aber auch erstmals bewusst erlebt, dass Musik auch Trost in schwierigen Stunden schenken kann. Das Konzert in Braunschweig wollte ich mit einem Schulfreund besuchen, doch am Vormittag ereignete sich in seinem engsten Familienkreis ein Todesfall. Natürlich stand die Frage im Raum, ob ein Konzertbesuch am Abend angemessen ist. Da aber bereits alles, was bereits geregelt werden konnte, erledigt war, hat mein Schulfreund mich an diesem Abend begleitet - und es nicht bereut.
Sehr gerne hätte ich Ihnen Anne-Sophie Mutter und Lambert Orkis auch hier mit diesem Programm, doch das Video ist leider vor einigen Tagen gelöscht worden - für würdigen Ersatz ist jedoch gesorgt: Leonidas Kavakos und Yuja Wang spielten die drei Violinsonaten am 1. August 2013 beim Verbier Musikfestival. In der Zugabe sind sie außerdem noch mit dem Scherzo aus der FAE-Sonate zu hören. Die FAE-Sonate ist Gemeinschaftswerk von Albert Dietrich, Robert Schumann und Johannes Brahms, das sie ihrem Freund, dem Geiger Joseph Joachim, gewidmet haben. Die Töne F, A und E stehen für Joachims Lebensmotto ("Frei, aber einsam"). Die Sonate ist beinahe vollständig vergessen, lediglich das Brahms-Scherzo findet man hin und wieder in Konzertprogrammen:
Anne-Sophie Mutter und Lambert Orkis spielten die drei Brahms-Violinsonaten im Dezember 2009 auch im Bibliotheksaal in Polling. Auch bei ihrer Zugabe blieben sie bei Brahms - sein Wiegenlied op. 49 Nr. 4 ("Guten Abend, gute Nacht") ist hier zu sehen:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler