Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
für diese Jubiläumsausgabe habe ich ein Chorwerk ausgesucht, das mich seit meiner Jugendzeit begleitet. Zwei eigene Aufführungen in den Jahren 2003 und 2012 liegen bereits hinter mir, und eine dritte darf gerne so bald wie möglich folgen: Felix Mendelssohns Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 52 "Lobgesang".
Allein der Umstand, dass Mendelssohns „Lobgesang“ auch als seine zweite Sinfonie bekannt ist, spricht für die ungewöhnliche Qualität des Werks. Der Komponist selbst war unsicher, wie er es nennen sollte, bis ein Freund ihm zu dem Namen „Sinfoniekantate“ riet. Diese Bezeichnung trägt der Tatsache Rechnung, dass das Werk zwar den Spannungsbogen einer viersätzigen Sinfonie mit einem vokalen Schlusssatz hat, dieser Schluss - der wiederum in neun aus Arien, Duetten, Rezitativen und Chören bestehenden Abschnitten unterteilt ist - aber eine derartige Länge aufweist, dass die erste drei Sätze im Vergleich dazu verblassen. Aufgrund der hybriden Gestalt konnten sich nicht alle Kritiker mit dem Werk anfreunden, doch im 19. Jahrhundert war es ausgesprochen beliebt - und wie immer bei Mendelssohn enthält es sehr viel erstklassige und originäre Musik.
Die Chorsinfonie war kein völlig neues Konzept. Beethovens 16 Jahre zuvor entstandene neunte Sinfonie war natürlich das große Vorbild, doch 1839 hatte Berlioz mit "Roméo et Juliette" ein noch radikaleres, noch stärker integriertes Beispiel für diese Form geschaffen. Den „Lobgesang“ komponierte Mendelssohn zu den Feierlichkeiten zum 400-jährigen Jubiläum von Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Die Stadt Leipzig, in der Mendelssohn bereits seit fünf Jahren lebte, war schon lange ein Zentrum der Bücher und des Buchdrucks, und deswegen hatten die Stadtväter beschlossen, das Ereignis mit einer dreitägigen Feier zu begehen, bei der als Höhepunkt am 24. Juni 1840 auf dem Marktplatz eine neue Gutenberg-Statue enthüllt werden sollte. Am Vortag kam eine neue Oper zur Aufführung - "Hans Sachs" von Albert Lortzing -, am Tag danach gab es ein abschließendes Festkonzert in Bachs Thomaskirche.
Als führender Komponist und Musiker der Stadt wurde Mendelssohn gebeten, eine Kantate zur Enthüllung der Statue zu schreiben (der „Festgesang“, dem das sehr beliebte englische Weihnachtslied „Hark the herald angels sing“ seine Melodie verdankt) und das Schlusskonzert zu dirigieren, bei dem Webers Jubel-Ouvertüre, Händels „Dettinger“ Te Deum sowie die Premiere des neuen Werks auf dem Programm standen. Zweifellos eingedenk Bachs Vermächtnis und der Bedeutung, die dem gedruckten Wort bei der Verbreitung des evangelischen Glaubens zukam, hatte Mendelssohn im Festgesang mit evangelischen Chorälen gearbeitet. Beim „Lobgesang“ entschied er sich dann für ein groß angelegtes sinfonisches Werk mit einer Mischung von Kirchenliedern und Bibelzitaten.
Später erweiterte Mendelssohn das Werk noch um einige weitere Sätze. Die zweite Fassung des Werks erklang erstmals am 3. Dezember 1840 in Leipzig. Die Uraufführung des „Lobgesang“ war ein beachtlicher Erfolg, und das Stück wurde zu einem der meistaufgeführten Werke Mendelssohns zu seinen Lebzeiten. Für Mendelssohn persönlich stellte das Werk den Wendepunkt nach einer eineinhalb Jahrzehnte währenden Schaffenskrise dar, in der es ihm nicht gelungen war, ein mehrsätziges sinfonisches Werk zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Von seiner „Reformations“-Sinfonie war der Komponist nach erfolglosen Aufführungen abgerückt, und die Arbeit sowohl an seiner „Italienischen“ als auch an seiner „Schottischen“ Sinfonie hatte er zurückgestellt, weil er von den Ansätzen seiner Kompositionen nicht mehr überzeugt war.
Zu Mendelssohns Lebzeiten gehört der "Lobgesang" zu seinen populärsten Werken. Doch bereits in ersten Kritiken wird auf die formale Parallele zwischen dem Stück und Beethovens neunter Sinfonie hingewiesen. - ein Vergleich, der schon bald zu einer gnadenlosen Abwertung und Verunglimpfung von Mendelssohns Opus führt. Der Musikwissenschaftler Adolf Bernhard Marx, ein Zeitgenosse des Komponisten, bezeichnet das Werk als "verunglückte Imitation der Neunten Sinfonie", Richard Wagner nennt es gar "ein Stück von blödester Unbefangenheit". Allen Kritikern zum Trotz: Mendelssohns zweite Sinfonie ist ein Schlüsselwerk, das instrumentale Musik und Kantate vereint und dabei bei höchster Form- und Gestaltungsvielfalt ein Höchstmaß an Einheit aufweist.
Mendelssohns "Lobgesang" basiert auf dem 150. Psalm "Alles, was Odem hat, lobe den Herrn", zu dem er ein zentrales, musikalisches Hauptthema schuf. Dieses Leitthema hatte der Komponist bereits drei Jahre zuvor in einer Vertonung des 42. Psalms verwendet; Abwandlungen davon hatte nicht nur Bach verwendet, sondern auch Mozart im Finale seiner Jupiter-Sinfonie. Im abschließenden "Kantaten"-Teil bildet das Leitthema den Grundstein für den Eingangschor, und Mendelssohn beschließt mit diesem Thema auch seine zweite Sinfonie.
Zwei großartige Aufführungen möchte ich Ihnen heute empfehlen: Die selten zu hörende Urfassung des "Lobgesangs" wählte Riccardo Chailly für sein Antrittskonzert als Gewandhauskapellmeister am 2. September 2005 im Leipziger Gewandhaus. Die Solisten sind Anne Schwanewilms (Sopran), Petra-Maria Schnitzer (Sopran) und Peter Seiffert (Tenor), es singt der Chor der Oper Leipzig und es spielt das Gewandhausorchester Leipzig:
In der Regel kommt die spätere Fassung zur Aufführung, die im folgenden Link zu sehen ist. Es singen und musizieren Christiane Karg (Sopran), Carolina Ullrich (Sopran), Maximilian Schmitt (Tenor), der Choeur de Radio France und das Orchestre National de France unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada. Die Aufführung fand am 6. November 2014 im Parise Théâtre des Champs-Elysées statt:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler