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05.06.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 182

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

in der letzten Ausgabe unserer keinen Frühlingsreihe steht heute einer der größten Skandale, die jemals ein Musikstück bei der Uraufführung verursacht hat, im Mittelpunkt: Igor Strawinskys Ballett "Le sacre du printemps" - das Frühlingsopfer.

Bisher hatte Igor Strawinsky mit seinen Auftragswerken für die Ballets Russes ("Feuervogel" und "Petruschka") große Publikumserfolge. Doch am 29. Mai 1913 erfüllte unglaublicher Lärm das Pariser Théâtre des Champs-Elysées: Mit Ohrfeigen und Beleidigungen reagierte das Publikum auf die Uraufführung von "Le Sacre du Printemps".

Das elegante Pariser Publikum war bereits vorgewarnt: Der Impresario der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, hatte die Pariser Presse am Vortag zur Generalprobe eingeladen. Er war Avantgardist, stets bereit Neuland zu betreten. Die besten Komponisten der Zeit schrieben für ihn, allen voran Igor Strawinsky. Es war Ungeheuerliches zu erwarten, wurde schon im Vorfeld gemunkelt. Und der skandalträchtige Tänzer Vaslaw Nijinskij als Choreograf schürte die Erwartungen. Provokationen waren in der Zeit zwar nichts Ungewöhnliches. Doch das Recht auf ungestörten, gepflegten Kunstgenuss wollte sich das Pariser Publikum auf keinen Fall nehmen lassen, brachte Trillerpfeifen und eine kämpferische Grundhaltung zur Premiere mit.

"Als ich in Petersburg die letzten Seiten des Feuervogels niederschrieb, überkam mich die Vision einer großen heidnischen Feier", hatte der Komponist die Handlung erläutert: "Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Frühlingsgott gnädig zu stimmen. Das war das Thema." Doch schon zu Beginn der Sacre-Premiere stand Strawinsky von seinem Platz auf - und ging: "Ich habe den Zuschauerraum verlassen, als bei den ersten Takten des Vorspiels sogleich Gelächter und spöttische Zurufe erschallten. Ich war empört. Die Kundgebungen, am Anfang noch vereinzelt, wurden bald allgemein. Sie riefen Gegenkundgebungen hervor, und so entstand sehr schnell ein fürchterlicher Lärm!" Das Premierenpublikum reagierte mit Pfiffen, Gelächter, Protestrufen und sogar Handgreiflichkeiten.

Strawinskys Musik ist revolutionär. Paradoxerweise erzählt er eine Geschichte aus dem heidnischen Russland, also aus uralten Zeiten. "Le sacre du printemps" handelt von rituellen Beschwörungen der Erde durch schamanische Priester, die das Wiedererwachen der Natur herbeiführen wollen. Ein Mädchen wird auserwählt, das der Erde geopfert werden soll, indem es sich in Trance und zu Tode tanzt. Heidnischer Urkult, blutiger Ritualmord: Mit der Darstellung eines Frühlingsritus im vorchristlichen Russland hatte Strawinsky einen Gewaltakt auf die Bühne geholt. Und die Musik setzte das Geschehen mit ungekannter Brutalität um. Sie war tonal und melodisch nicht mehr fassbar, sondern betonte vor allem den Rhythmus. Ein halbstündiges Werk für riesengroßes Orchester mit einer solchen Rhythmus-Orgie musste das Publikum jener Zeit vor den Kopf stoßen. Die schroffe Motorik der Musik trieb die nackten Tänzer auf der Bühne in ihren heidnischen Riten: Keine klassischen Tanzschritte, kein liebevoller Pas de deux, stattdessen hektische, ekstatisch zuckende Körper, von Lust und Aggression beherrscht. Strawinsky hatten großräumige Gruppenbewegungen vorgeschwebt, die das Archaische, Unpersönliche des Geschehens betonen sollten. Nijinsky aber stand auf einem Stuhl in der Seitenbühne und brüllte - gegen die lautstarken Tumulte im Parkett - seinen Tänzern Kommandos für hochkomplizierte Schrittfolgen zu.


"Genau das, was ich gewollt habe!", kommentierte Sergej Diaghilew den Skandal des Abends. Denn schließlich bedeutete ein Skandal nicht Misserfolg, sondern Publicity - und damit Erfolg. Die einen Kritiker beklagten die Intoleranz des Publikums gegenüber der zeitgenössischen Kunst. Die anderen führten "das gesunde Volksempfinden" ins Feld, das sich gegen den "Moloch der kakophonen modernen Musik zur Wehr setzt". Am Ende stand neues Geld von Mäzenen. Wie eine Bombe schlug Strawinskys "Sacre" ein - als Befreiungsschlag: Alles wurde möglich. Mit einem Ruck wurde das Tor zur musikalischen Zukunft weit aufgerissen. Die Tumulte der Uraufführung blieben eine einmalige Angelegenheit. Sie machten Strawinsky berühmter. 

Die choreografische Umsetzung des Balletts bleibt bis heute eine Herausforderung. Es ist ein heftiges Stück voller unregelmäßiger Rhythmen, das zum wichtigsten Ballett des 20. Jahrhunderts wurde und mit dem sich alle bekannten Choreographen beschäftigt haben. Schon ein Jahr nach der Uraufführung trat das Bravourstück für brillante Orchester und Dirigenten seinen bis heute andauernden Siegeszug an - in den Konzertsälen. Aus dem einstigen Publikumsschocker wurde bald ein Klassiker der Moderne. 

Zwei Aufführungen aus dem Konzertsaal möchte ich Ihnen zunächst heute empfehlen - zunächst Sir Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra, aufgezeichnet am 24. September 2017 in der Londoner Barbican Hall:

www.youtube.com/watch

Rund 50 Jahre zuvor stand Leonard Bernstein am Pult des London Symphony Orchestra, der Mitschnitt entstand am 27. November 1966 in den Fairfield Halls in Croydon:

www.youtube.com/watch

Absolut sehenswert ist noch immer ein rund einstündiger Mitschnitt von Proben zu Strawinskys "Sacre" mit dem Orchester des Schleswig Holstein Musikfestivals unter der Leitung von Leonard Bernstein. Die Proben mit den jungen Musiker*innen fanden im Sommer 1988 in Salzau statt:

www.youtube.com/watch

In ihrem bahnbrechenden Education-Projekt haben die Berliner Philharmoniker und Sir Simon Rattle Strawinskys Ballett im Jahr 2003 als Tanzprojekt mit 250 Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen Berliner Schulen in der Treptower Arena aufgeführt. Der Kinofilm "Rhythm is it" hat dies eindrucksvoll dokumentiert, einen Trailer können Sie hier sehen:

www.youtube.com/watch

Anlässlich des 100. Jahrestags der Uraufführung wurde Nijinskys Choreographie im Pariser Théâtre des Champs-Elysées rekonstruiert. Mitwirkende der Aufführung vom 29. Mai 2013 sind Ballett und Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters unter der Leitung von Valery Gergiev:

www.youtube.com/watch

Am selben Abend erlebte auch die neue Choreographie von Sasha Waltz ihre Premiere, die in den Folgemonaten auch in Sankt Petersburg, Paris, Brüssel und Berlin zu sehen war. Erleben Sie im folgenden Link Sasha Waltz & Guests, es spielt noch einmal das Orchester des Mariinsky-Theaters unter der Leitung von Valery Gergiev:

www.youtube.com/watch

Meine letzten beiden Empfehlungen gelten der Fassung für zwei Pianisten: An zwei Klavieren spielten Martha Argerich und Daniel Barenboim am Ostersamstag 2014 in der Berliner Philharmonie - ein für mich unvergessliches Konzert:

www.youtube.com/watch

Und auf noch engerem Raum, nämlich an einem Flügel, spielten Lucas und Arthur Jussen am 23. September 2017 im Rahmen des Malmö Chamber Music Festivals Strawinskys Meisterwerk:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler