Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
raus aus der Stadt, zurück zur Natur! Im August 1879 unternahm der 15-jährige Richard Strauss von Murnau aus eine Bergtour auf den 1.800 m hohen Heimgarten. Bereits in der Nacht brach er auf, um den Sonnenaufgang auf dem Gipfel erleben zu können. Beim Abstieg geriet er in ein Gewitter und erreichte erst am Abend einen Bauernhof, in dem er übernachten konnte. Anschließend schrieb er an seinen Freund, den Komponisten Ludwig Thuille: "Die Partie war bis zum höchsten Grade interessant, apart und originell. Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalereien und Schmarrn (nach Wagner)".
Vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, im Krieg vollendet: Die Alpensinfonie von Richard Strauss ist ein Werk zwischen den Zeiten, ein Abgesang auf die Romantik und ein Aufbruch ins Ungewisse. Ein Spaziergang ist sie jedenfalls in keiner Hinsicht.
"Strauss’ Alpensinfonie, das ist doch ein Mords-Hokuspokus! Lieber aufhängen, als jemals solche Musik schreiben." So harsch formulierte seine Meinung 1917 der damalige Konzertmeister des Frankfurter Opernorchesters: Paul Hindemith. Fast alle Zeitgenossen sahen in dem Werk "nur" eine reine Naturbeschreibung, erst fünfzig Jahre später begannen Forscher, unter der fulminanten Oberfläche weitere Schichten zu entdecken, durch die das Werk ganz andere Dimensionen gewinnt.
Für den sonst eher zügig komponierenden Richard Strauss war es ein hartes Ringen um dieses Werk: Schon 15 Jahre vor der Vollendung entstanden die ersten musikalischen Gedanken, allerdings plante er sie damals für eine sinfonische Dichtung mit dem Titel "Ein Künstlerleben". Sie sollte die Biografie des Malers Karl Stauffer nachzeichnen, der sich nach einer verbotenen Liebesbeziehung 1891 in den Tod stürzte. Zwei weitere Todesfälle waren ebenfalls ausschlaggebend für die Konzeption der Alpensinfonie: der Tod des Philosophen Friedrich Nietzsche 1900 und der Tod Gustav Mahlers 1911 - letztere Nachricht erreichte Strauss, als er sein seit vielen Jahren geplantes Werk niederzuschreiben begann.
Strauss sah in der tragischen Künstler-Biografie Karl Stauffers auch die Verkörperung eines Künstlers, der an den gesellschaftlichen Zwängen scheitert. Einen Ausweg aus dieser Enge meinte er als Jünger Friedrich Nietzsches vor allem durch die Überwindung des Christentums zu finden. Nietzsches Schrift "Der Antichrist. Fluch auf das Christentum" prägte Strauss’ Denken und Streben. Die Entwürfe zu seiner sinfonischen Dichtung bleiben einige Jahre liegen; erst als er vom Tod Gustav Mahlers erfährt, besinnt er sich wieder darauf. 1911 schreibt er in sein Tagebuch: "Ich will meine Alpensinfonie den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur." Alle drei Forderungen werden nach Strauss’ Ansicht in einer Bergbesteigung vereint. So verknüpft die Alpensinfonie sein Andenken an gescheiterte Künstler, seine Liebe zur Natur und seine philosophischen Gedanken im Sinne Nietzsches. Als die Partitur vier Jahre später im Druck erscheint, entfernt er den philosophischen Hinweis jedoch im letzten Moment.
Die musikalische Alpenbesteigung gliedert sich in 22 weitgehend symmetrisch angelegte Abschnitte: Nacht – Sonnenaufgang – Der Anstieg – Eintritt in den Wald – Wanderung neben dem Bache – Am Wasserfall – Erscheinung – Auf blumigen Wiesen – Auf der Alm – Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen – Auf dem Gletscher – Gefahrvolle Augenblicke – Auf dem Gipfel – Vision – Nebel steigen auf – Die Sonne verdüstert sich allmählich – Elegie – Stille vor dem Sturm – Gewitter und Sturm, Abstieg – Sonnenuntergang – Ausklang – Nacht.
Scheitelpunkt des Werks ist erwartungsgemäß "Auf dem Gipfel". Das Gewitter beschleunigt den Abstieg, die charakteristischen Passagen kehren in verdichteter Form wieder. Das ganze Werk durchzieht ein "Wandermotiv", ein punktierter Schreitrhythmus, der auf Vogelgezwitscher, Kuhglocken, Dickicht, Wasserfall und Nebel trifft. Das Klanggemälde beansprucht fast 120 Musikerinnen und Musiker, teilweise mit Instrumenten aus dem Fundus der Theatermusik wie Windmaschine, Donnerblech oder Kuhglocken. Das volle Orchester kommt aber selten zum Einsatz, vielmehr nutzt Strauss das breite Instrumentarium, um mit großem Raffinement in unterschiedlichsten Besetzungen ganz neue Klangfarben zu mischen. Die Alpensinfonie endet, wie sie begann: mit der "Nacht". Einige Passagen klingen auch für heutige Ohren noch erstaunlich modern: So erscheint am Anfang und am Schluss - und auch zu Beginn des Abschnitts "Gewitter und Sturm" - ein veritabler Cluster: Alle Noten der b-Moll-Tonleiter werden sukzessive intoniert und ausgehalten.
Es dauerte einige Jahre, bis Strauss das Manuskript abgeschlossen hatte; die Partitur instrumentierte er dann aber innerhalb von genau 100 Tagen vom 1. November 1914 bis 8. Februar 1915. Am 28. Oktober 1915 dirigierte der Komponist die Uraufführung seiner Alpensinfonie in Berlin; es spielte die Hofkapelle Dresden (die heutige Staatskapelle), der das Werk auch gewidmet ist.
Er habe einfach so komponieren wollen, wie die Kuh Milch gibt, hatte Richard Strauss einmal mit einer Spur Selbstironie in einem später oft zitierten Satz gesagt. Strauss selbst hat seine sinfonische Alpentour stets hochgeschätzt; er dirigierte sie bis ins hohe Alter und nahm sie auch für die Schallplatte auf. Noch 1948 schrieb er an einen jungen Dirigenten: "Viel Vergnügen zur Alpensinfonie, die ich auch besonders liebe. Sie ist von der hohen Intelligenz stets unterschätzt worden. Sie klingt allerdings auch zu gut!"
Drei Aufführungen der Alpensinfonie stelle ich Ihnen gerne hier vor - zunächst die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Bernard Haitink bei ihrem Gastspiel am 7. September 2012 bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall:
2014 spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann das Werk in der Dresdner Semperoper:
Und zuletzt noch eine aktuelle Produktion, die heute Abend um 20 Uhr Premiere hat: Der Konzertfilm "Eine Alpensinfonie" mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Robin Ticciati sowie Zwischentexten von und mit Reinhold Messner ist ab heute im dso-player (https://www.dso-berlin.de/de/medien/hoeren-sehen/player) zu sehen. Der Film wurde im Berliner Tempodrom aufgezeichnet, einen Trailer können Sie bereits hier sehen:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler