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06.02.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik, SchapenMusik, WeddelMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 133

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

zu den beliebtesten Kantaten, die Johann Sebastian Bach komponiert hat, zählt "Ich habe genug" BWV 82. Sie wurde 1727 für das Fest der Reinigung der Jungfrau Maria geschrieben (2. Februar – Mariä Lichtmess), das 1727 am vierten Sonntag nach dem Dreikönigsfest fiel.  

1727 war auch das Uraufführungsjahr der Matthäus-Passion. Seit ihrer Wiederentdeckung 1829 durch Felix Mendelssohn entwickelte sie sich zum Herzstück unserer Musikkultur. Dass die Kantate „Ich habe genug“ heute zu den populärsten der rund 200 erhaltenen Bach-Kantaten zählt, mag auch mit ihrer Nähe zu dieser Passion zu tun haben. 


Wichtiger als die zeitliche Nähe ist jedoch der Tonfall der Musik. Schon die erste Arie „Ich habe genug“ zeigt wichtige Eigenheiten von Bachs Kunst. Selbst dort, wo die Melodie für sich genommen eine ganze Welt des Ausdrucks umfasst, bettet Bach sie noch in einen Strom von Gegenstimmen und ein eng verflochtenes Wechselspiel von Solo-Instrument und Stimme ein. Das simple Modell von Melodie und Begleitung, das viele seiner galanten Zeitgenossen bevorzugten, genügte Bach nur selten. Es ist dieser Überschuss an technischer Komplexität und Ausdruck, der die Musik des „alten“ Bach für seine Zeitgenossen so schwer genießbar, für spätere Generationen dagegen so vorbildhaft machte.

Ähnlich verhält es sich mit dem letzten Satz, der Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“. Hier wird durch eine Koloratur auf das Wort „freue“ das wichtigste Wort des Textes und dessen zentrale Botschaft herausgehoben. Dem Namen nach handelt es sich zwar um eine Arie. Würde man aber den Solo-Part von einem Instrument ausführen lassen, hätte man der Sache nach einen veritablen Konzertsatz, der als Finale in jedem Concerto stehen könnte. Doch jenseits aller technischen Komplexität ist es vor allem ihre seelisch-emotionale Dimension, die Bachs Musik für ihre Bewunderer so bedeutsam macht.

In der Matthäuspassion prägt neben Leid und Schmerz ein Gefühl von Zärtlichkeit Text und Musik. Das lyrische Ich und „sein“ Jesus befinden sich in einem vertrauten, intimen Zwiegespräch, dessen Tonfall sich aus der Liebeslyrik des Hoheliedes herleitet. In der Kantate „Ich habe genug“ ist es der greise Simeon, der – stellvertretend für alle Christen – dem Tod gefasst und friedvoll ins Auge blicken kann, nachdem er den Erlöser gesehen hat. Diesen Frieden macht Bach in Aria Nr. 3 „Schlummert ein, ihr matten Augen“ in den Klängen eines sanft wiegenden Schlafliedes hörbar. Bach vertonte also nicht nur Texte, er fand klangliche Symbole, deren Gültigkeit sich, manchem Wandel der Werturteile und Musikanschauungen zum Trotz, bis heute immer aufs Neue erwiesen hat. 

Zwei Konzertmitschnitte möchte ich Ihnen heute gegenüberstellen. Zu den derzeit gefragtesten Lied- und Opernsängern gehört zweifellos der Bariton Christian Gerhaher.

Im Rahmen des Young Euro Classic Festivals, das jährlich zur Sommerzeit im Berliner Konzerthaus stattfindet, sang er die Kantate am 28. August 2016 mit dem Gustav Mahler Jugendorchester unter der Leitung von Philippe Jordan:

www.youtube.com/watch

Dass die Kantate auch in kleinstmöglicher Besetzung gut funktioniert, zeigte sich beim Gemeinschaftskonzert des Bayerischen Rundfunks "Wir für die Musik" am 24. Mai 2020. Gemeinsam mit Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sang Christian Gerhaher auch dort diese Bach-Kantate:


www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler