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07.05.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 170

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

die Werke Gustav Mahlers zählten bis zum Beginn der 1970er Jahre eher zum Randreperoire der Orchesterliteratur. Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Roman "Tod in Venedig", für den das Adagietto aus der fünften Sinfonie quasi den Soundtrack lieferte, löste 1971 eine wahre Mahler-Renaissance in der ganzen Welt aus:

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"Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand kapiert sie!" Dies notierte Mahler 1905 nach einer von ihm geleiteten Aufführung der Sinfonie in Hamburg. Die Uraufführung in Köln am 18. Oktober 1904 lag gerade ein halbes Jahr zurück, und wir wissen nicht, warum Mahler glaubte, dass sein Werk so wenig verstanden werden würde. Entstanden ist die Sinfonie während der Sommerferien 1901 und 1902 in Maiernigg am Wörthersee, wo Mahler gerne seinen Urlaub verbrachte, um ungestört arbeiten zu können.


Diese Äußerungen erstaunen angesichts der Tatsache, dass die Fünfte heute zu den beliebtesten Mahler-Sinfonien zählt. Die Gründe dafür, dass sie das damalige Publikum so nachhaltig irritierte und ihren Schöpfer so viel Kraft kostete, sind auf mehreren Ebenen zu suchen. Klar ist: Diese Sinfonie hebt sich von den vier vorangegangenen deutlich ab. So verzichtete Mahler hier auf eine Gesangsstimme, durch die er seine Sinfonien Nr. 2 bis 4 mit dem Lied-Genre verschränkt hatte. Dafür legte er nun mehr Wert auf die Eigenständigkeit der einzelnen Instrumente. 

"Verflucht" war die Sinfonie nicht nur für Mahlers Zeitgenossen, sondern auch für ihn selbst. Bei keiner anderen seiner Sinfonien hat er so um die endgültige Gestalt gerungen wie bei der Fünften. Drei Druckfassungen liegen vor, und für nahezu jede Aufführung instrumentierte Mahler sie neu. Noch im Winter 1910/1911, knapp ein Jahrzehnt nach der Entstehung, unterzog er die Partitur einer letzten Revision.


Zur Popularität der Sinfonie entscheidend beigetragen hat das Adagietto - spätestens seit Luchino Visconti es in seiner Thomas-Mann-Verfilmung "Tod in Venedig" verwendete, für dessen Protagonisten Mahler als Vorbild diente. Nach Überlieferung des Dirigenten Willem Mengelberg schrieb Gustav Mahler diesen Satz als Liebeserklärung an seine spätere Frau Alma, die er im Herbst 1901 kennenlernte: "Statt eines Briefes sandte er ihr das Manuskript, weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden und schrieb ihm, er solle kommen." Wer würde angesichts dieser elegischen Musik von Streichern und Harfe, die zudem ein Zitat aus Wagners "Tristan" enthält, nicht dahinschmelzen?

Wie alle Sinfonien Mahlers ist auch die Fünfte eine "Finalsinfonie", das heißt der innere Gedankengang zielt in einer großen zwingenden Form auf den Schlusssatz. Er führt von der Klage des Anfangs (1. Satz, Trauermarsch), über den schmerzgepeinigten Aufschrei des zweiten Satzes (Stürmisch bewegt) in eine Welt des absoluten Friedens (4. Satz, Adagietto) und schließlich zur erlösenden Choral-Apotheose des Rondo-Finales. Dazwischen steht als dritter Satz ein ausgedehntes Scherzo, das unter den Hornisten besonders gefürchtet ist und eine eigene Abteilung bildet. Es verbindet die Erste Abteilung (1. und 2. Satz in düster Moll-Atmosphäre) mit der Positivität der Dritten Abteilung (4. und 5. Satz). 

Mit diesem Werk verbinde ich zahlreiche Konzerterlebnisse. Eine unvergessliche Aufführung fand im Rahmen des ersten Chorausflugs der Propsteikantorei Königslutter am 24. August 2007 in Leipzig statt. Am Abend besuchten wir im Gewandhaus ein Konzert des Simon Bolivar Youth Orchestras aus Venezuela, Gustavo Dudamel war damals schon auf dem Weg der Weltspitze unter den Dirigenten. Noch im Nachhall des letzten Akkords sprang damals das für seine Zurückhaltung noch gefürchtete Leipziger Publikum von den Sitzen und feierte lautstark minutenlang die jungen Musiker. So ähnlich war es auch auch am 2. August 2019, als das European Union Youth Orchestra Mahlers Fünfte beim 20-jährigen Jubiläum des "Young Euro Classic"-Festivals unter der Leitung von Vasily Petrenko im Berliner Konzerthaus spielte:

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Speziell diese Sinfonie kann ich nicht hören, ohne dabei an Leonard Bernstein zu denken, der durch seine Gesamteinspielung der Mahler-Sinfonien in den USA in den 1960er Jahren einen ersten Boom auslöste. Er war auch der erste Dirigent, der in den 1970er Jahren Mahlers Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern filmen ließ. Eine Probe zum Trauermarsch der 5. Sinfonie ist legendär geworden: Sie zeigt einen beinahe die Geduld verlierenden Leonard Bernstein, der nicht akzeptiert, dass die Wiener Philharmoniker, Mahlers ehemaliges Orchester, seine Musik so leidenschaftslos musizierten:

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In der anschließenden Aufführung, die im April 1972 im Wiener Musikverein entstand, ist von den Spannungen bei den Proben jedoch nichts mehr zu spüren:

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Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

P.S.: Mahlers fünfte Sinfonie diente mir im letzten Jahr sehr oft als musikalischer Geburtstagsgruß. Die Berliner Philharmoniker spielten das Werk 2018 mehrfach auf ihrer Asien-Tournee mit Gustavo Dudamel. Bei einer Probe in Peking wurde der ahnungslose Hornist Klaus Wallendorf überrascht:

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Ich stimme einem youtube-Kommentar zu diesem Video zu: Ein Trauermarsch, der zu "Happy Birthday" führt - das ist wirklich "typisch Mahler"!

Beitrag von Matthias Wengler