Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück ist ein echtes Virtuosen-Stück für Pianisten: "Islamey", eine orientalische Fantasie von Mili Balakirev.
Von seinem Sommerurlaub 1868 im Kaukasus hatte Mili Balakirev einige frisch notierte Volksweisen mitgebracht. Die im Kaukasus als "Islamey" bekannte Weise, die Balakirev im Jahr darauf als Hauptthema seiner gleichnamigen Komposition verwenden sollte, hat er wahrscheinlich schon während einer Kaukasus-Reise im Jahre 1863 notiert. Die originale "Islamey" ist ein kabardischer Tanz aus dem Nordkaukasus; sämtliche anderen nordkaukasischen Melodien in diesem Werk stammen von jener früheren Reise. Das Thema des langsamen Mittelteils ist eine tatarische Melodie von der Krim, die Balakirev im Sommer 1869 im Hause Peter Tschaikowskys in Moskau durch einen armenischen Schauspieler kennengelernt hatte.
Balakirev begann mit der Komposition seiner orientalischen Fantasie "Islamey" für Klavier im August 1869. Während der Entstehung spielte er das Werk mit Tschaikowsky durch, der die Basspartie übernahm. Vollendet wurde das Werk nach wenig mehr als einem Monat am im September in St. Petersburg. Sofort schickte Balakirev das Stück an den großen Pianisten Nikolai Rubinstein. Rubinstein ließ den Komponisten wissen: "Ich arbeite - armer, elender Tropf, der ich bin - an Deinem Stück, welches mich mit schrecklicher Wonne erfüllt, und wofür ich Dir danke; ich werde es jedenfalls in meinem Moskauer Konzert spielen; aber es ist so schwer, dass nur wenige damit zurecht kommen werden; ich will einer dieser wenigen sein."
Nikolai Rubinstein brachte "Islamey" am 12. Dezember 1869 in Moskau zur Uraufführung. Alexander Borodin berichtete: "Der Saal war voll, und es gab große Ovationen für Rubinstein und für Balakirev, dessen Stück übrigens klar nicht den Publikumsgeschmack traf. Die Mehrheit war verdutzt angesichts dieser östlichen Fantasie und verstand nichts davon. Dieses Stück ist nun tatsächlich ziemlich lang und durcheinander; die technische Seite ist zu offensichtlich; sogar Balakirevs Bewunderer geben das zu. Es ist schade, aber da kann man nichts machen." "Islamey" sollte in seiner schaurigen Virtuosität schnell Balakirevs weithin erfolgreichstes Werk werden, vorgetragen von Rubinstein in Paris und anderen westlichen Metropolen, und bald auch häufig aufgeführt von Franz Liszt.
Boris Bereszowsky begeisterte mit Balakirews "Islamey" 2005 das Publikum bei seinem Klavierabend in Mexico City:
Eine erste Orchestration dieses Stücks unternahm 1907 mit erheblicher Virtuosität Alfredo Casella. Anfang Mai 1908 kam diese Fassung in Paris unter Casellas Leitung zur Uraufführung. Auch in Russland wurde 1909 diese Fassung enthusiastisch aufgenommen und aufmerksam vom gleichaltrigen Igor Strawinsky studiert. Diese Fassung erklang am 28. März 2019 in der Londoner Barbican Hall mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda:
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Sergej Liapunov, Freund und Schüler Balakirevs und Professor am St. Petersburger Konservatorium, orchestrierte "Islamey" Anfang 1912, nach dem Tode seines Meisters. Er schrieb seine Orchestration als Ballett für das Kaiserliche Mariinsky-Theater zu St. Petersburg anlässlich einer Benefizveranstaltung für den russischen Schriftstellerfond, nachdem die Witwe Nikolai Rimsky-Korsakows nicht genehmigt hatte, dessen "Scheherazade" als Ballettmusik zu verwenden. Da "Islamey" als Musik geeignet erschien, um auf der Bühne ein ähnliches Thema zu behandeln, bat man Sergej Liapunov um eine Orchestration. Die Uraufführung fand am 10. März 1912 im St. Petersburger Mariinsky-Theater statt, in der Choreographie von Michel Fokine. Das Ballett "Islamey" war zunächst äußerst erfolgreich und ging sofort ins ständige Repertoire ein.
Über die Handlung des Balletts schrieb Michel Fokine in einem Brief vom 2. Mai 1925, sie stamme aus '"1001 Nacht": Die Frau des Scheichs schüttet diesem ein Schlafpulver in den Wein. Er durchschaut ihre List, schüttet den Wein in einem unbeobachteten Moment weg und tut so, als ob er einschliefe. Sie verbirgt den Schlafenden hinter einem Vorhang und empfängt ihren Liebhaber. Als die beiden auf dem Höhepunkt ihres Liebesakts anlangen, springt der Sultan, der alles mitangesehen hat, hervor und tötet den Liebhaber. Die Frau stürzt sich in ihrer Angst aus dem Fenster in die Schlucht.
Über die Szene schreibt Fokine, dass sie vorwiegend aus Tänzen der Haremsfrauen und junger Sklaven bestand. Sobald der Sultan erscheint, sind die Massen in Schrecken versetzt. Es ist ein äußerst bewegtes und farbenreiches Ballett, sei aber leider zu kurz (nur sieben Minuten), weshalb sich die Eindrücke überstürzten und es hieß, man müsse es mehrmals gesehen haben, um zu verstehen, was überhaupt vor sich geht.
Die Orchestrierung von Sergej Liapunov bildet den Abschluss der heutigen Ausgabe. Sie wurde Ende Juli 2014 im Rahmen der Proms vom Borusan Istanbul Philharmonic unter der Leitung von Sascha Goetzel in der Londoner Royal Albert Hall aufgeführt:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler