Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
"Es scheint, die Neunte (Sinfonie) ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, wofür wir noch nicht reif sind." Worte, die einem Mythos huldigen - Worte Arnold Schönbergs, gesprochen im Andenken an Gustav Mahler, der tatsächlich vor der Vollendung seiner zehnten Sinfonie gestorben war. Das Schicksal, so schien es, hatte mit Mahlers frühem Tod ein weiteres Opfer unter jenen großen Komponisten gefordert, die so vermessen waren, seit Beethoven die geheiligte Zahl Neun zu überschreiten. Schubert, Bruckner, Dvořák - sie alle hatten ebenfalls neun Sinfonien geschrieben, danach waren sie gestorben. Allen voran: Beethoven mit einem Werk, dessen Schlusschor die gesamte Menschheit zu umarmen versuchte.
Dmitri Schostakowitsch ist es im letzten Jahrhundert gelungen, die mystische Zahl Neun zu überschreiten - seiner Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op.70, die ich Ihnen heute gerne vorstellen möchte, folgten noch sechs weitere Sinfonien. Die Neunte ist jedoch im Vergleich zu den Werken seiner Kollegen geradezu eine "Anti-Neunte".
Die Entstehung einer neuen Sinfonie, die Schostakowitsch nach der siegreichen Beendigung des Krieges im Sommer 1945 ankündigt, ist für die kulturelle und politische Führung der Sowjetunion unter Stalin keine Überraschung. Mit seiner siebten, der sogenannten Leningrader Sinfonie, hatte er wenige Jahre zuvor ein bekenntnishaftes Werk geschrieben. Nun soll seine bereits neunte Sinfonie folgen. Die Nachrichtenagentur TASS meldet vorauseilend, die Sinfonie werde „unserem großen Sieg“ gewidmet, es wird kolportiert, sie werde zu einer Hymne auf Stalin. Jedoch: Eine Hymne von einem Komponisten, der neun Jahre zuvor durch Stalins persönliche Missbilligung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ in Ungnade gefallen war? Die Kritik, die Schostakowitsch im Januar 1936 zur Kenntnis nehmen musste, brachte den Musiker in unmittelbare Lebensgefahr. Denn in jenen Jahren waren willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung. Schostakowitsch und seine Familie lebten seitdem in Angst, saßen mitunter auf gepackten Koffern. Von nun an wurde Komponieren für ihn zu einem gefährlichen Balanceakt: zwischen kreativem, unabhängigem Arbeiten und staatstreuer Anpassung.
Als am 3. November 1945 die Neunte mit kleinem Orchester, ohne Solisten, ohne Chor in St. Petersburg uraufgeführt wird, ist das Publikum enttäuscht. Es erklingt ein beinahe verspieltes Werk, ohne Pathos, eher witzig und voller akademischer Anspielungen, bei dem irgendetwas nicht recht zu stimmen scheint. Ein musikalisches Versteckspiel, eine Clownerie? Zahlreiche zitierte Motive, ironische Brechungen, ja Karikaturen pathetischer Triumphmusik charakterisieren das Werk. Es ist eine Maskerade, von der Zensur zwar als solche erkannt, aber nicht entschlüsselt.
Wie in den verbalen Äußerungen seines politischen Lebens, in denen er oft angepasst erscheint, schreibt Schostakowitsch Klänge, hinter denen sich erst bei genauerem Hinhören Abgründe auftun. Er selbst verweigert sich wortreichen Interpretationen: „Ich komponiere, meine Musik wird aufgeführt. Man kann sie hören. Wer hören will, hört. Ich brauche keine kühnen Worte, sondern kühne Musik...“ Er verwendet Chiffren, die ihn kaum angreifbar machen, die sein Leben schützen. Und der Nachwelt Zeugnis geben von der widerständigen Kraft von Kunstmusik, die sich den Forderungen nach politischen Plattitüden verweigert. Dazu Schostakowitsch-Schüler Rudolf Barschai: „Laut, drei Forte fortississimo gespielt und so endet sie, die Sinfonie, (..) Stalin war verspottet, zum Glück Stalin hat das nicht verstanden, zum Glück.“
Drei Aufführungen stelle ich Ihnen heute gerne zur Auswahl, zunächst mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi, aufgezeichnet am 14. August 2021 bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall:
www.youtube.com/watch
Der zweite Mitschnitt kommt aus Köln, das WDR Sinfonieorchester spielte das Werk unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste am 2. September 2017 im Funkhaus am Wallrafplatz:
Und zum Schluss noch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet 1987 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins:
www.youtube.com/watch
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler